Das Zeit- und Strafraum Kontinuum:
Minute 46 – von Erdapfeln und Bällen

„Der Ball ist ein Erdapferl“, brüllt Posch. „Genauso wie die Erde eine Potsdamer Kartoffel, weil rund ist gar nichts.“ Posch plärrt seine Weisheit in den Raum. Die Freunde im gut gefüllten Wohnzimmer hörten ihn, so vermutet er, ansonsten nicht. Fünf Freunde, wie so oft vor dem modern in sich gebogenen High-Tech-Fernseher versammelt. Das Spiel vereinte sie wieder einmal, dafür kamen sie zusammen. Beim Spiel vergessen sie den Alltag. Beim Spiel ist alles andere Nebensache: 90 Minuten plus Nachspielzeit und Vorbesprechung. Hier jubeln sie, hier schreien sie, hier philosophieren sie, hier diskutieren sie, streiten sie, leiden sie, therapieren sich, berühren sich, begegnen sich. Hier sind sie Mensch, hier dürfen sie es sein.


Der Tormann pariert den Freistoß. Der Spieler blickt halb enttäuscht, halb über seinen Fußballgott fluchend nach oben. Sein perfekt getretener Ball zog eine physikalisch unmögliche Kurve um die Menschenmauer an der Strafraumgrenze. Erst die Zeitlupe zeigt, wie der Ball kurz vor der Mauer eine Biegung nach links vollzieht, nur um sich, als dieser am Hindernis vorbei war, wieder nach rechts zu drehen und sich schließlich flatternd, aber schnell, in Richtung Tor bewegt. Eine Granate. Der Tormann entschärft sie, sehr zur Befriedigung seiner Kameraden. Ein echter Keeper. Ein Peacekeeper.
„Dass dieses Ei aber auch so flattern muss“, kommentiert Schwarz. „Das ist ja beinah wettbewerbsverzerrend“.

„Sag ich doch. Rund ist einmal gar nichts. Das weiß jeder Physiker. Da stellen wir, und mit wir meine ich Adidas, seit dem Telestar 1970 so etwas wie kugelförmige Bälle her und dann flattert das Ding so gewaltig. Dabei ist es doch die Kugel, die uns so fasziniert, der perfekte Ball, mit dem Schwerpunkt in der Mitte, ohne oben, ohne unten, ohne Vorder- oder Rückseite, ein Wunder der vorhersagbaren Beweglichkeit. Aber kaum tritt der Arrogante von Denen dagegen, wird die Kugel zusammengestaucht zum Erdapferl und fliegt flatternd – wird unvorhersehbar. Ich hasse Die. Gut , dass Wir einen Goalie haben.“
„Komm wieder runter Posch, nichts passiert. Am Beginn des Fußballs spielte man noch mit einer Luft befüllten Schweineblase. Das war erst ein Ei. Die Blase flog nicht durch die Luft, sie flatterte. Und das nicht lange, weil sie nicht schwer genug war, um mehr als ein paar Meter weit zu torkeln. Wie muss das erst gewesen sein?“
„Da hätten‘s selbst Unsere nicht schwer den Raum zu decken“, wirft Troissler ein.

„Die Schweineblase wäre ja ein Friedensobjekt, weil sie durch ihre stete Unberechenbarkeit Unterschiede von Spielern ausgleicht. Es wär‘ jeder gleich gut. Da könnt‘ ich selbst beim FC-Wir-Spielen-Nur-Mit-Der-Schweineblase-Barcelona mitspielen“, freut sich Schwarz.
„Friede, Freude, Ladida. Erstens würden wir uns am Platz die Köpfe einschlagen, weil wir so eng beieinanderstehen müssten. Das heißt, die besten Boxer kämen am häufigsten dazu den Ball zu treten. Und zweitens würden wir hier nicht sitzen und ein Schweineblasen-Fußballspiel anschauen. Keine Dynamik, keine Athletik, keine Weitschüsse, keine Flanken, kein Spiel ohne Ball. Es lebe das Leder, das die Blase umhüllte.“ Stegisch hat gesprochen.

„Weit und gut flog der Ball erst, als die Schweineblase durch Kautschuk ersetzt wurde“, sagt Adelmann. „Posch, wann war das?“
„1862, als good old Mackintosh aus Kautschuk Gummiblasen herstellen konnte. India Rubber Bladder hieß das Zeug“
„Hört, hört: Der Herr Historiker kann sein unnützes Wissen wieder unter die Leute bringen“, raunt es aus der Küche, wo einer der Fünf gerade ein Bier aus dem Kühlschrank holt und mit einem lauten Zischen die Flasche von der Kapsel befreit.
Posch: „Aber ernsthaft. Die ersten Lederhäute sind dann schon ordentlich weit geflogen…“
Adelmann: „… aber nur wenn es nicht regnete, denn dann sog sich das Leder mit Wasser voll. Die Bälle wurden steinhart. Stellt euch vor wie das Dagegentreten schmerzhaft gewesen sein muss.“
„Schienbeinbrecher“, wirft Troissler ein.

Selbst in der Zeitlupe fliegt der Ball derart schnell, dass die Zuseher beinahe glauben möchten, es handle sich um die Realgeschwindigkeit. Die Fünf unterbrechen das Gespräch, um sich die „Wahnsinnstat“ des Torhüters nochmals zu verinnerlichen. Die Flugbahn des Balles wird in der im Kopf sitzenden Blackbox der Fußballfans gespeichert, damit diese in bald folgenden Gesprächen mit Freunden, Kollegen und Jedermann wieder in Erinnerung gerufen werden kann.
Schwarz beendet die Blackbox-Speicherung: „Die Ledernen sollen sich verdammt oft versprungen sein. Die Ersten hatten auf zwei Seiten einen Knopf, genau dort, wo die Lederstreifen vernäht wurden. Später gab es zwar ein Ventil, aber genau dort musste das Leder verschnürt werden. Eine fette, knubbelige Ledernarbe quer über den Ball: Filigranes Tiki Taka schwer möglich.“

Posch, seinerseits gerade beim Kühlschrank, um aus dem Küchenout sein unnützes Historikerwissen einzuwerfen: „Noch bei den ersten beiden Weltmeisterschaften in Uruguay 1930 und in Mussolini-Italien 1934 spielte man mit solchen Narbenbällen mit zwölf bis 18 verschnürten Streifen“
„Narben garantiert. Zumindest beim Kopfball“, sagt Adelmann.
„Trotzdem schon echter Fußball und kein Schweineblasen-Der-Schwarz-Spielt-So-Gern-Für-Den-Friedenskorps-Gehüpfe. Kopfbälle waren zwar selten und schmerzten. Sie waren aber möglich und daher ein besonderes Spektakel. Die nassen, harten Fetzen verlangsamten zwar das Spiel im Regen, aber die Jungs mussten schon gewaltig gut drauf sein, eben athletisch, damit sie die Lederhaut bewegen konnten.“
Troissler trocken: „Na dann, Hals und Beinbruch“.
Adelmann: „Kleine klinisch-tödliche Nebeneffekte der gegerbt ummantelten Spielgeräte.“

Posch, noch nicht ganz vom Beinahe-Tor von Denen erholt, weiter philosophisch schwafelnd: „Der Ball war, ist und wird halt etwas Lebendiges bleiben. Daher ist es auch wichtig für den Spieler ein intimes Verhältnis mit seiner ledernen oder vollsynthetischen Haut zu entwickeln. Nur wer ein sinnliches Verhältnis zur Haut entwickelt, kann ein Fußballrebell, -Held oder -Liebhaber werden. Wer seine Haut, das größte Organ des Platzes, kennt, weiß, dass deren Oberfläche niemals glatt sein kann, dass Dellen, Krater und Ausbuchtungen eben dazugehören. Die unregelmäßige Oberfläche macht die Erde zur kartoffelförmigen Erde und den Ball zum Erdapferl.“
Stegisch: „Das Erdapferl muss trotzdem ins Eckige.“

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