Kurvenblick
FC Winterthur – das Schweizer St. Pauli?

Der FC Winterthur ist eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Fussballlandschaft. Wegen seiner linken Fans und der Ausrichtung gegen die fortschreitende Kommerzialisierung des Fussballs trägt der Verein den Spitznamen „FC St. Pauli der Schweiz“. Mit „Hells Bells“ von AC/DC benutzen sie sogar dieselbe Einlaufmusik wie ihre Kollegen aus Hamburg. Doch was steckt wirklich hinter diesem Vergleich? Das Cupspiel gegen den FC Basel nahm ich zum Anlass, mich etwas eingehender mit dem  FC Winterthur zu befassen, dem Kultverein der Schweiz. Schon aufgrund der Nähe zu meinem Wohnort verfolge ich die Geschicke des FCW in der Challenge League, der zweithöchsten Spielklasse. Noch bevor ich in der Schweiz sesshaft wurde, verschlug es mich bereits in das legendäre Stadion Schützenwiese (in der Szene liebevoll “Schützi” genannt), wo mich ein langjähriger Stadiongänger unter seine Fittiche nahm. Nach einigen Bieren war damals der Bann gebrochen und mittlerweile ist eine sehr sehr gute Freundschaft daraus entstanden.

Erstklassig zweitklassig…

Mit 110.000 Einwohnern ist Winterthur die sechstgrößte Stadt der Schweiz. Sie ist es gewohnt, verunglimpft zu werden. Als Steuerhölle, als Griechenland der Schweiz, Tote-Hose-Stadt, Jihad-Hochburg, als Vorort von Zürich, Armenhaus oder als Schlafdorf. In einer Kurzgeschichte beschreibt der Autor Tom Combo Winterthur als Stadt, die mit Einstein einst jenen Mann beherbergt hatte, der fähig war, die Atombombe zu bauen und mit Mussolini jenen anderen, der verrückt genug gewesen wäre, sie einzusetzen. „Und was hätten wir mit der Bombe getan?“ „Auf Zürich geworfen.“ Dieser kurze Dialog aus der Geschicht beschreibt die Winterthurer Mentalität ganz gut.

Sie ist eine Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen und Trotz. Man steht im Schatten einer großen Stadt, die im Land sowieso eine Sonderstellung genießt, stänkert darüber und ist irgendwie doch neidisch. Gleichzeitig versucht man aber, die Sache mit Humor zu nehmen. Ähnlich halten es die Winterthurer auch mit ihrem FCW. Sie zelebrieren das Verliererimage des Vereins. Mit der Aura einer sympathischen „Zweitklassigkeit“ hat man sich angefreundet, “erstklassig zweitklassig” lautet dementsprechend eines der beliebtesten Mottos der Fangruppen.

Spurensuche in der Klubhistorie

Was macht diesen chronisch erfolglosen, aber ungemein sympathischen Verein nun zu einem Kultverein? Um diese Frage zu klären, muss man einige Jährchen in der Geschichte zurückblicken. Zu Beginn des neuen Jahrtausends befand sich der FCW, ebenso wie die alte Industriestadt Winterthur, im Niedergang. 2001 stand der Verein kurz vor dem Konkurs. Nur rund 500 Zuschauer wollten den FC damals im Schnitt auf der „Schützi“ sehen. Der Klub war quasi pleite und die lokale Politik spielte gar mit dem Gedanken, das zentral gelegene Stadion dem Wohnbau zu opfern. Doch wie konnte es so weit kommen? Der FC Winterthur war einst ein stolzer Verein gewesen, war dreimal Schweizer Meister und stellte Nationalspieler. Allerdings liegt das schon knapp hundert Jahre zurück. Diese Erfolge feierte man in einer Zeit, als es noch keine Profis gab. In den Zwanzigerjahren kam dann der Profifussball und die guten Spieler wanderten zu den Grasshoppers oder zum FC Zürich ab. Zwei Spieler verließen Winterthur damals Richtung FC Turin. Profisport, ja oder nein? Diese Frage wurde im Verein hitzig diskutiert, mit flammenden Reden gegen den Kapitalismus. Der Amateursport wurde als Gegenkraft zur kommerziellen Arbeitswelt idealisiert und tatsächlich entschied  sich der FC Winterthur damals dagegen, eine Profimannschaft sein zu wollen. Der einzige Profi war der Trainer. Er erhielt seinen Lohn direkt vom Stadtpräsidenten. Das war nobel, der Klub verschwand aufgrund dieser Entscheidung aber für dreißig Jahre von der Bildfläche.

Ein Jahr lang alles geben, damit der Verein überlebt. 

Schließlich doch im Profisport angekommen, waren die Sechziger- und Siebzigerjahre für den FCW die sportlich erfolgreichsten Zeiten, was auch mit der damaligen Konjunkturentwicklung zusammenhängt. Durch die Industrie florierte die Stadt und auch der städtische Fussball machte wieder von sich reden. Als wirtschaftlich wieder schlechtere Zeiten anbrachen, ging es mit dem Verein steil bergab. Die Achtziger und Neunziger waren eine einzige Katastrophe, die Anfang 2000 fast im Konkurs endete.

Ein Punk als Geschäftsführer

Der FCW  lebt stark von seinem Geschäftsführer Andreas Mösli, der das Paradeexemplar eines „Charaktertypen“ verkörpert. In den wilden Achtzigern organisierte Andreas Mösli Solidaritätsaktionen für Verhaftete der „Bewegung“, spielte in Punkbands und besetzte Häuser. Umtriebig – so lässt sich der einstige Punk wohl am besten beschreiben. Mösli arbeitete in Fabriken, später als Volontär und Redakteur bei der „Arbeiterzeitung“, im Open-Air-Kino, beim Interkulturellen Forum, spielte in Bands, engagierte sich in Genossenschaften und arbeitete auch beim „Tages-Anzeiger“ für vier Jahre  als Redakteur. Kurz: Mösli ist ein Fixpunkt der alternativen Szene Winterthurs. Ein Ex-Punk als Geschäftsführer? Beim FCW geht das, zumindest nach dem Beinahe-Bankrott des Vereins. Mösli gründete Anfang 2000 die Stadionbar “Libero”, einen Kollektivbetrieb, der zu einem Treffpunkt für Fans, Spieler und Familien werden sollte. Rechtlich war der Betrieb vom Verein entkoppelt, da damals nicht klar war, wie lange es ihn noch geben würde. Mösli organisierten Lesungen und Konzerte, mit dem “Libero” etablierte er ein mustergültiges linkes Projekt. In dieser Zeit rutschte er auch in den Vorstand des FCW, in dem er für ein ganzes Jahr lang unbezahlt arbeitete. Ein Jahr lang alles geben, damit der Verein überlebt. So lautete die Devise. Tatsächlich gelang das Experiment, nach einem Jahr war der Verein gerettet und Mösli wurde angestellt.

Das Fussballfeld ist eine Welt im Kleinformat.

Während andere Traditionsvereine untergegangen sind, hat der FCW überlebt und sich zu einer Erfolgsstory entwickelt. Mit dem Club ist auch das linke Selbstverständnis in der Kurve geblieben, das in der Ostschweizer Fussballszene ziemlich einzigartig ist. Ausdruck findet es in diversen Aktionen und Statements. So nahm die FCW- Szene beispielsweise an einer von Tennis Borussia Berlin Fans initiierten Kampagne gegen Homophobie in Stadien teil und auch der Verein selbst unterstützt und fördert immer wieder Projekte gegen Rassismus, so etwa das eigens ins Leben gerufene Turnier „Kick für Toleranz“. Die Liste der sozialen Engagements ist lange: Der Stadionkaffee stammt aus selbstverwalteten zapatistischen Kollektiven in Chiapas, es wird stark in die Nachwuchsförderung und in den Frauenfussball investiert, Flüchtlingsheime, Schulen und Heime für Menschen mit Behinderungen werden immer wieder gratis zu Spielen eingeladen. „Als Kind kickst du in irgendeinen Gegenstand und schon spielst du Fussball“, sagt Mösli. Das Fussballfeld ist für ihn eine Welt im Kleinformat. „Es gibt wenige Orte, wo sich alt und jung, dick und dünn, reich und arm, begegnen.“ Im Bereich der Integration sei das eine große Chance. „Fussball hat sehr wenig mit Glamour zu tun, die grosse Mehrheit der Vereine steht für einen anderen, bodenständigeren Fussball“, sagt er.

Fussballromantik auf der Schützenwiese

Offiziell hat das Winterthurer Stadion eine Kapazität von 9.400 Plätzen, ca. 2.000 davon sind Sitzplätze, den Rest bilden einfache Stehtraversen. 2015 wurde eine neue Gegentribüne eingeweiht, gebaut für zehn Millionen Franken. Neunzig Prozent dieses Betrags kamen voller Euphorie von der Kommune, die eigentlich selbst an allen Ecken und Enden sparen muss. Inzwischen pilgern im Schnitt über 3.000 Besucher zu den Heimspielen, obwohl  die Erfolge ausgenommen vom Cup weiterhin ausbleiben. Egal: Die “Schützi” trifft den Nerv der Fussballromantiker. Viele fliehen sogar aus Zürich, weil Winterthur trotz allem näher ist als der Hamburger Stadtteil St. Pauli. Vielen Stadien merkt man ihre Künstlichkeit und kommerzielle Aufgesetztheit an. Marketingprofis überlegen sich da große Konzepte zur “matchday experience”, jede freie Fläche wird mit Werbung zugepinselt und in der Pause hampelt irgendein Clown auf dem Platz herum. So sieht die Stadionrealität in der Regel aus. Und dann gibt es da noch die Schützenwiese. Sie ist in Winterthur ein Mikrokosmos der besonderen Art. Ein Besuch dort fühlt sich an wie die Reise in eine andere Welt.

Vieles ist improvisiert, wenig perfekt. 

Für die jungen Besucher gibt es die so genannte „Sirupkurve“, eine überdachte Minitribüne für Kinder. Ein geräuschvolles Reich mit Trommeln in der ersten Reihe und gratis „Sirup“. Wenige Meter weiter befindet sich die „Bierkurve“ für die breite Masse, Standort der Supportinteressierten. Daneben gibt es weitere einmalige und sympathische Besonderheiten. Etwa die „Libero-Bar“, wo bis spät nach dem Spiel Konzerte gespielt werden. Oder für Kunst- und Sektliebhaber den „Salon Erika“, auf dessen Dach eine Statue von Juri Gagarin wacht. Als Verkaufsstände sieht man bunte, einfache Holzkonstruktionen und auf dem Dach der neuen Gegentribüne ein alternatives Solarkraftwerk, dessen Erlös zur Gänze in die Nachwuchsabteilung fließt. Vieles ist improvisiert, wenig perfekt. Dafür umso charmanter. Jugendlicher Flair anstatt durchgestylter, konturloser Glitzerwelt mit Hochglanz-Logen und Business-Seats. „Wir sind das größte Jugendhaus der Region“, sagt Andreas Mösli. Eine echte Erlebniswelt.

Ebenfalls bemerkenswert ist wohl, dass die Vorstellung eines Klassenaufstiegs des FC Winti unter den Fans auf vehemente Ablehnung stößt. Ein aussichtsreicher Tabellenplatz würde vermutlich gar für Panik sorgen. Schon allein die Stadionauflagen in der Super League sind den SupporterInnen in der Eulachstadt ziemlich suspekt. Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren bezeichnet Stehplätze in Stadien als Sicherheitsrisiko. Auf der Schützenwiese gibt es aber großteils nur solche.

Fussball und Politik – (k)ein Widerspruch?

Geschäftsführer Mösli bezieht dazu Stellung: „Fussball ist politisch, weil er eine gesellschaftliche Angelegenheit ist, in die ganz viele Dinge hineinprojiziert werden. Da spielen Schweizer zusammen mit Migranten. Und weil ich auch keine Lust habe, neben einem Nazi im Stadion zu stehen, müssen einige Rahmenbedingungen stimmen, damit man sich wohlfühlt. Jetzt kann man darüber diskutieren, ob Fussball politisch sein darf, aber diese Diskussion finde ich nicht relevant, denn er ist politisch.“

In der Fankurve des FCW – der “Bierkurve” – hängen Transparente, auf denen in großen Lettern „antiracist network“ oder auch „football fans against racism“ zu lesen ist. Auch wegen der linken Fanszene gilt der FCW als „FC St. Pauli der Schweiz“. Aus diesem Grund folgen die Hamburger auch der alljährlichen Einladung des FC Winterthur, mit dem man die kritische Haltung zur Kommerzialisierung des Fussballs teilt.

Der Grundgedanke des FCW ist eine solidarische Gesellschaft.

Es ist auch kein Zufall, dass sich die Fanszene nicht über den Hass auf andere Mannschaften definiert, denn der Grundgedanke des FCW ist eine solidarische Gesellschaft. „Klar, es ist ein Fussballverein und Fussball ist eine ernste Sache. Das rechtfertigt trotzdem keine Diskriminierung. Egal, was Leute sagen, die sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung stehlen: Man kann als Verein eine Grundstimmung beeinflussen“, bezieht Mösli klar Stellung in den Medien. Aber auch in Winterthur kommt es vor, dass manchmal jemand mit rechten Szeneklamotten in der Kurve auftaucht. „Du musst akzeptieren, dass Fussball alle anspricht, nicht nur die Netten. Und du kannst nicht von Hand verlesen, wer reinkommt. Du musst auch akzeptieren, dass es Leute gibt, die einfach nur Fussball und Bier wollen und sich einen Scheißdreck dafür interessieren, dass wir beim FCW eine Sozialcharta haben“, so Mösli weiter.

Vereine wie der FCW, der FC United of Manchster, St. Pauli oder auch der SV Babelsberg 03 sind mit ihren Fanszenen klare Ausnahmeerscheinungen. Sie demonstrieren, dass es durchaus möglich ist, Räume zu schaffen, in denen die Realität von Fussball und Fankultur nicht einfach die klischeehafte Vorstellung von pöbelnden, saufenden Chauvinisten ist, die ihren Sexismus, ihre Homo- und Transphobie, sowie ihren Rassismus im Stadion ausleben. Es wäre jedoch zu naiv zu denken, dass solche Inseln von der Wirkung der Märkte völlig gefeit sind. Auch solche Vereine müssen Geld machen, Spieler bezahlen, kaufen und verkaufen, Werbeverträge abschließen und so weiter. Trotz aller Versuche, anders zu sein, müssen sich auch Vereine wie der FCW den objektiven Bedingungen des Kapitalismus beugen. Mösli sieht sich und seinen Verein als „Teil eines kapitalistischen Systems, da kommen wir nicht drum herum, uns Geld zu beschaffen, damit wir funktionieren können. Beim FCW sind es rund 60 Teil- und Vollzeitstellen, für die wir am Monatsende Löhne zahlen können müssen.“

Zukunftsaussichten

Mösli ist sportlichem Erfolg natürlich nicht abgeneigt, aber nicht jedes Mittel scheint ihm dafür angebracht. Von der Stadt sind keine weiteren Zuwendungen zu erwarten. Sie muss selbst kräftig sparen, weshalb der Ausbau des Stadions und die Sanierung der Haupttribüne bis auf weiteres verschoben sind. Solange sich daran nichts ändert, wird es auch in Zukunft die “Sirupkurve”, den “Salon Erika” und die “Bierkurve” geben, die allesamt zum Charme des Stadions beitragen. Und solange das so ist, werden sich die Sympathisanten des FCW weiterhin fragen, ob es sich lohnen würde, das alles für einen Aufstieg aufzugeben. Mösli weiß: „Die Angst ist da, dass man verliert, was man jetzt hat.“

(Bilder vom Cup Achtelfinale zwischen dem FCW und dem FC Basel am 31.10.2018):

1 thoughts on “Kurvenblick
FC Winterthur – das Schweizer St. Pauli?”

  1. Diesem Beitrag hätten wir bis vor ca. 3 Jahren zugestimmt. Jedoch ist in den letzten Jahren extrem viel passiert. Wir, die aktive Fanszene des FC Winterthur, bezeichnet sich als eine apolitische Kurve. Sie ist ein Zusammenschluss von den aktiven Gruppierungen, die geschlossen hinter ihrem Banner «Winterthur MDCCCXVI» auftreten und Stimmung, Fahnen und somit Farbe ins Stadion bringt. Die «Bierkurve» ist eine eigenständige Gruppierung abseits des roten Banners. Bei uns ist es „anders“, da haben Sie recht, jedoch verfolgen wir in weiten Strecken selbe Ziele wie andere Kurven und setzten den Fokus primär auf akustischen Support und Leidenschaft für unseren FCW. Die Abneigung gegenüber der Kommerzialisierung und Vermarktung des Produkts Fussball ist bei uns definitiv ein grosses Thema, lässt sich aber nicht politisch einordnen, da dies sowohl linke wie auch rechte Kurven ablehnen. Es gibt viele St. Pauli Sympathisanten auf der Schützi, jedoch pflegt die aktive Szene keinerlei Kontakt zum FC St. Pauli und eine offizielle Fanfreundschaft liegt überhaupt nicht in unserem Interesse und widerspricht sich unserer apolitischen Kurvenkultur. Wir pflegen andersweitig nationale wie auch internationale Freundschaften. Ihr Statement „FCW-Szene beispielsweise an einer von Tennis Borussia Berlin Fans initiierten Kampagne gegen Homophobie in Stadien teil“ muss ich somit auch dementieren, da wir keinerlei Verbindung zu solchen Veranstaltungen haben.

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