Das Zeit- und Strafraum Kontinuum
Minute 50 – Die Bibel und der Boom

Ein genialer Vierzigmeterpass überbrückt die gegnerische Abwehr. Der Stürmer nimmt den Ball mit der Brust an, legt ihn sich nochmals mit dem linken Oberschenkel zurecht, lässt ihn kurz auf den Rasen päppeln und drückt mit aller Kraft seines rechten Fußes ab. Heroisch wirft sich noch ein von der Seite heranrutschender Verteidiger in die Schusslinie – zu spät. Aber auch egal, denn der Ball wird in etwa zehn Meter über das Tor in Richtung Zuschauermenge katapultiert.

Adelmann: „Schnell.“

Stegisch: „Was für ein Bums.“

Schwarz: „Wieviel km/h dieser Ball wohl aufgenommen hat? Irre, was dem seine Oberschenkel für eine Geschwindigkeit hinter den Ball bekommen.“

Posch: „Die Geschwindigkeit des Balles dient uns Zuschauern im Grunde zum besseren Hören und Sehen. Daher ist uns die Wirklichkeit des Spieles nur über die Geschwindigkeit des fliegenden Balles zugänglich. Aus dieser Wirklichkeit entstehen dann Geschichten. Der fliegende Ball ist der Autor. Die Spieler die handelnden Personen. Das Feld die Kulisse. Das Publikum das Publikum.“

Troissler: „ Jo eh, Poschi. Ist dir die Geschwindigkeit des Balles einmal zu oft gegen den Kopf gedonnert?“

Adelmann: „Wenn der fliegende Schreiberling ins Tor geflogen wäre, hätte er seine Geschichte wohl besser verkauft.“

Inzwischen erhält der Tormann einen neuen Ball vom Seitenout zugeworfen, um ihn an die Abstoßlinie zu legen.

Nur der Fußball schreibt Geschichten, wie sie der Fußball schreibt.

Stegisch: „Hier kommt schon der neue Autor. Da ist die Fußballwelt beinhart: Ist deine Geschichte erfolglos, ersetzt dich der Stadionverleger mit einem neuen Schreiberling. Die Balljungen sind demnach kleine Manager, die mit hunderten von Autoren um sich werfen können.“

Troissler: „Ich frage mich, ob Verlagshäuser ähnlich gesegnet mit Autoren sind?”
Der Tormann nimmt Anlauf und befördert den Ball mit Wucht und Präzision weit über die Mittellinie.

Adelmann: „Ein neues Kapitel beginnt, oder vielleicht wird’s nur ein Absatz, je nach Laune des Jungautors.“

Schwarz: „Nur der Fußball schreibt Geschichten, wie sie der Fußball schreibt.“

Adelmann: „Eines muss ich ja zugeben: Was wäre denn der Fußball tatsächlich ohne Geschichten, ohne Legenden, ohne Mythen, ohne Vereinshistorie, ohne Helden, ohne Opfer, ohne Nachkommentiertem, ohne Vorgedachtem, ohne visuell festgezimmerten Epen?“

Schwarz: „Nichts. Übrig bliebe nur das Spiel. Neunzig Minuten plus minus. Ödes Gekicke. Zweiundzwanzig Spieler, die einem runden Etwas hinterherhecheln. Das Spiel ist. Es schreibt aber nicht.“

Stegisch: „Dann würde der Fußball nicht existieren. Es gäbe ihn schlichtweg nicht. Alles im Fußball dreht sich um diese Geschichten, die formuliert und weitergegeben werden. Sie verleihen dem Spiel Sinn.“

Adelmann: „Es dreht sich nicht um den Ball, es dreht sich um das Narrativ, das der Ball formuliert.“

Posch: „Und das Narrativ verbindet, denn Millionen Menschen glauben an den gemeinsamen Mythos Fußball. Eine große Anzahl von Fremden ist in dieser kollektiven Imaginierung verwurzelt.“

Am Anfang war der Ball…

Troissler: „Amen, Bruder. Kannst dem Pfarrer für seine Sonntagspredigt zuschanzen.“

Adelmann: „Ist nicht neu, dass Fußball und Religion verglichen wird.“

Schwarz: „Ist auch nicht abwegig. Beides basiert auf Geschichten, beide produzieren eigenen Mythen, an die kollektiv und zweifelsfrei geglaubt wird. Beide schufen ein Epos mit zahlreichen Geschichten, Helden und Heiligen. Die einen haben bereits einen Namen für den Epos: Bibel.“

Adelmann: „Ich glaube in beiden Glaubensgemeinschaften gibt es Apokryphen, die nicht in den offiziellen Epos aufgenommen werden. Die einen zensiert der Vatikan, die anderen die FIFA.“

Stegisch: „Wir bräuchten noch einen Namen für den Fußball-Epos. Kurz und knackig müsste er sein, wie ‘Bibel’ eben.“ Er sinniert leise vor sich hin: „Bibel, Babel, Pöbel…?“

Adelmann: „Wie wär’s mit ‘Boom’. Das würde auch die Geschwindigkeit des Balles, folglich den Schreiber, recht gut charakterisieren?“

Die Freunde nicken. Sie sind sich einig, dass der Epos Fußball künftig unter dem eindringlichen Namen „Boom“ niedergeschrieben wird.

Posch: „In der Boom steht dann natürlich alles geschrieben. Am Anfang war der Ball…“

Schwarz: „Die Vertreibung aus dem Stadion, nach dem Biss vom Ball der Erkenntnis.“

Troissler: „Der ledrige Biss der Erkenntnis.“

Stegisch: „Aber wie sieht unser Ende aus? Haben wir apokalyptische Reiter? Gibt es ein paradiesisches Jenseits, das weder Zeit noch Strafraum kennt?

Das Gespräch wird in dieser Minute kurz unterbrochen, denn im Diesseits klingelt es an der Tür.

© spielfrei.at

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert