Kurvenblick
Das Old-School Italo-Derby

Pisa und Livorno – zwei Städte in zwanzig Kilometern Entfernung, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Kultur und Tourismus auf der einen versus Hafen und Industrie auf der anderen Seite. Dem geneigten Fussballreisenden zaubern sie jedoch beide ein Leuchten in die Augen. Als Liebhaber der italienischen Stadion- und Fanlandschaft kommen mir bei dieser Paarung sofort Bilder aus den späten 90iger und 2000er-Jahren in den Sinn: volle, farbenfrohe Kurven mit grandiosem Tifo, aber auch heftige Ausschreitungen in und um die Stadien. Die Nerazzurri bzw. deren Kurve verfolge ich seit vielen Jahren, ist doch das schwarze Graz freundschaftlich mit den Pisani verbunden. Erste Kontakte entstanden durch die Gründungsmitglieder der bekannten Grazer Fangruppen, welche sich in ihren jungen Jahren so oft wie möglich neue Ideen aus dem damaligen „Ultra-Wunderland“ Italien holten. Diese Freundschaft ist trotz massiver Repression, mit der die Kurve Pisas seit Jahren zu kämpfen hat, immer noch fest verankert. Gegenseitige Spielbesuche der jeweiligen Kurven inklusive aufgehängter Zaunmaterialien zeugen in regelmäßigen Abständen davon. 

Reisevorbereitungen in Zeiten italienscher Planungswillkür

Meine Vorfreude war natürlich unermesslich, als Ende der Saison 2016/17 feststand, dass es nach acht langen Jahren wieder zu einem Aufeinandertreffen beider Teams in der Lega Pro (3. Liga) kommen sollte. Dass die Rivalität trotz Phasen ohne direkter Begegnungen weiterhin lebendig geblieben war, zeigte sich etwa beim Europa League Spiel zwischen dem SK Sturm und AEK Athen im Jahre 2011, um nur ein Beispiel zu nennen. Den anwesenden Pisani wurde aus dem Gästesektor (zwischen Athen und Livorno gibt es eine Fan-Freundschaft) ein Transparent mit der wenig freundlichen Aufschrift „Pisa merda“ präsentiert, was sich daraufhin zu gegenseitigen Hassgesängen in Liebenau hochschaukelte. Im Lauf der letzten Jahre wurde zudem in Pisa kaum eine Gelegenheit ausgelassen, um die Nachbarstadt mit Spruchbändern à la „Livorno merda“ zu grüßen. Trotz solcher Sticheleien darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass im Vorjahr nach den massiven Überschwemmungen in Livorno ausgerechnet die Szene Pisas zu gemeinsamen Aufräumarbeiten aufrief und diesen Worten auch Taten folgen ließ.

Aber eines stand fest, bei diesem „echten“ Derby musste ich dabei sein. 

Ende November 2017 sollte das Hinspiel der Meisterschaft in Pisa stattfinden, der Spieltermin wurde für Italien recht untypisch schon frühzeitig auf einen Sonntag um 20:30 Uhr gelegt. Für mich begannen damit die ersten Planungen für den Spielbesuch. Nachdem Fragen rund um die Anreise geklärt und Tickets dank meiner Grazer Kontakte besorgt waren, trafen wenige Tage vor dem Spieltermin die ersten Hiobsbotschaften ein und sollten bis zum Tag der Abreise nicht mehr enden. Der Antrag auf eine Ausnahmeregelung zur Kapazitätserweiterung (nach dem Abstieg aus der Serie B wurde die Kapazität von Pisas Heimkurve aufgrund akuter Baumängel um ein Drittel reduziert) für das Highlight der letzten Jahre wurde seitens der Behörden abgeschmettert. Ebenfalls wurde der Spielbeginn auf 14:30 Uhr vorverlegt, was eine pünktliche Anreise für mich fast unmöglich machte. Lange Zeit war überhaupt unklar, ob Gäste zugelassen würden. Plötzlich waren dann aber 400 (!) Gästetickets verfügbar, was für ein Spiel mit solchem Kultfaktor blanker Hohn ist. Livorno reagierte darauf nach dem Motto „alle oder niemand“. Kurz gesagt, sie boykottierten das Spiel. Als wäre damit meine Laune nicht ohnehin schon im Keller gewesen, setzte Pisa dem ganzen Geplänkel zwei Tage später noch die Krone auf und rief seinerseits ebenso zum Boykott des Spiels auf. Einen Tag vor Abreise musste ich somit meinen Spielbesuch endgültig canceln.

Der zweite Versuch

Im April diesen Jahres fand schließlich das Rückspiel in Livorno statt, das aufgrund des Hin und Hers im November gar nicht mehr in meinem Fokus stand. Eine Woche vor Spieltermin traute ich aber meinen Augen kaum: „Trasferte liberi“ – PISA DARF FAHREN! Von da an aktualisierte ich diverse Internetseiten nahezu im Stundentakt, rechnete ich doch bis zum Schluss mit einer ähnlichen Farce wie wenige Monate zuvor. Aber eines stand fest, bei diesem „echten“ Derby musste ich dabei sein. Auch in Pisa herrschte große Euphorie, die 1.400 Tickets waren innerhalb einer Stunde vergriffen.Via Internet konnte ich mir glücklicherweise ein Ticket für die Heimseite sichern. Zwei Tage später wurde der Online-Verkauf aber wieder eingestellt, da zahlreiche Pisani durch Angabe falscher Wohnadressen versuchten, Tickets für die Sektoren der Gastgeber zu erwerben. Stadiontickets sind in Italien allerdings personalisiert und Fans mit Wohnorten aus der Provinz Pisa waren in diesem Fall vom Verkauf ausgeschlossen. Auch an meinem Ticket gab es offenbar etwas auszusetzen, ich bekam aber immerhin eine Mail auf Italienisch, in der mir mitgeteilt wurde, dass ich mein Online-Ticket vor Ort umtauschen könne.

Samstag, 14.4.2018

Der Tag des Derbys war gekommen, tatsächlich mein 66. Spiel am Stiefel. Für so einen Klassiker beginnt man die Reise schon einmal etwas früher, genau genommen in der Nacht von Freitag auf Samstag um 2:15 Uhr in Frauenfeld, Schweiz. Inmitten des nachtschwärmenden Partyvolks ging es mit dem Zug nach Zürich, wo sich der grüne Fernbusanbieter mit zweistündiger Verspätung endlich Richtung Milano auf den Weg machte. Dort wurde wieder auf Schiene umgesattelt und über Florenz erreichte ich nach knapp elf Stunden Fahrzeit Pisa Centrale. Zur Mittagsstunde erwartete mich am Bahnhof ein surreales Bild, welches ich im Jahre 2018 in Italien so nicht mehr für möglich gehalten hätte. Die Anspannung war sprichwörtlich greifbar. Hunderte Pisani aller Altersstufen stimmten sich auf diesen großen Tag ein. Und zwar nicht volltrunken oder in der Gegend herumgrölend, sondern absolut mit Stil. In kleinen Gruppen wurde lässig diskutiert, die ein oder andere Kräutermischung inhaliert, sporadisch wurden auch Gesänge angestimmt und zur Abrundung gab es immer wieder Fahnen und pyrotechnische Erzeugnisse in der Luft. Stets genial zu sehen ist in Italien auch der 50 bis 60-jährige Ultra, der seine Kurve nach wie vor mit voller Begeisterung vertritt. So stelle ich mir die goldenen Jahre vor, die ganze Szenerie war für mich der Inbegriff von „Ultra“. Insgesamt hatten sich die Fans gut im Griff und auch die Polizei war sehr zurückhaltend.

Touri-Bonus sei Dank, fand ich einen Weg aus dem Polizeikessel…

Was die Anreise betrifft, hatten übrigens sowohl die Präfekten von Pisa und Livorno als auch die Polizei im Vorfeld des Spiels zur Privatfahrt mit dem Auto aufgerufen, vom Großteil der Gäste wurde das allerdings gekonnt ignoriert. Sie traten die 20-minütige Fahrt stattdessen lieber mit mehreren Regionalzügen an. In den Waggons und auch bei der Ankunft am Livorno Centrale lief dem Vernehmen nach aber alles friedlich, aus den Zügen ging es zudem direkt in die hermetisch abgeriegelten Shuttlebusse. Eine alternative Anfahrt zum Stadion war aufgrund der massiven Polizeipräsenz auch gar nicht möglich. Ein Polizeihubschrauber war ebenfalls im Einsatz, anfangs über dem Bahnhof und danach während des gesamten Spiels über dem Stadion. Touri-Bonus sei Dank, fand ich einen Weg aus dem Polizeikessel, um mich nach erfolgloser Suche nach einem Schließfach (immer dasselbe in Italien!) auf den knapp sechs Kilometer langen Fußmarsch Richtung Stadion zu machen. Von meinem ersten Besuch in Livorno 2014 (in der Serie A vs. Inter) war mir dieser noch halbwegs bekannt.

Das Stadio Armando Picchi wurde bereits 1935 eröffnet und ist der Traum eines jeden Fussballreisenden. Ursprünglich für eine Kapazität von knapp 20.000 Besuchern ausgelegt, sind bei heutigen Spielen noch knapp 12.000 Tifosi zugelassen. Der Zustand des Bauwerks ist an Tristesse schwer zu überbieten: Sanitäranlagen, die schon vor Spielbeginn teilweise zentimetertief unter Wasser (oder was auch immer) stehen, wuchernder Schimmel überall, freiliegende Kabelstränge und Eisenstangen. Von Anzeigetafeln oder ähnlichem Schnickschnack fehlt sowieso jede Spur und die Stadionlautsprecher haben vermutlich überhaupt noch nie eine verständliche Durchsage ermöglicht. Man wird das Gefühl nicht los, dass seit der lange zurückliegenden Eröffnung rein gar nichts geändert wurde. So eigenartig es auch klingen mag, aber als Stadionromantiker komme ich hier aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. In anderen Ländern wäre dieses Stadion wohl längst dem Erdboden gleichgemacht worden, in Italien sind aber fast alle Stadien (außer z.B. bei Juve) im Besitz der Kommunen und für Investitionen in Infrastruktur dieser Art fehlt oftmals das Geld.

Der Tifo

Die Heimkurve und Gegengerade waren proppenvoll, nur auf der Haupttribüne blieben einige Sitze frei, mal abgesehen natürlich von den riesigen Pufferblöcken. Insgesamt wurde somit eine Zuschauerzahl von knapp 10.000 erreicht. Wer hier auf grandiose Choreos oder riesige Pyroshows à la Polen- oder Stockholm-Derby hoffte, war absolut fehl am Platz. Es spielte an diesem Tag absolut keine Rolle, für mich war es eine wundervolle Zeitreise in die Welt des Tifos vor den tragischen Ereignissen von 2007 (Tod des Polizisten Filippo Raciti und des Lazio Anhängers Gabriele Sandri).
Livorno leitete das Spiel mit einer Old-School Choreo ein: Im unteren Bereich der langgezogenen Kurve wurden Bänder gespannt, im oberen Teil gab es hunderte Fähnchen in den Vereinsfarben, garniert mit einzelnen Rauchtöpfen und Bengalen, dazu auf der Gegengerade eine Überziehfahne. Die Kurve (unterstützt von Freunden aus Marseille und vom AEK Athen) legte über die gesamte Spieldauer einen wechselhaften Support hin. Teilweise brachial laut, zeitweise war dann aber leider nur der Mittelblock der großen Kurve aktiv. Beflügelt vom Spielverlauf (Endstand 2:0) und den Schmähgesängen stieg jedoch die gesamte Gegengerade mit ein. Das „Chi Non Salta“ (“Wer Nicht Hüpft…”) des gesamten Stadions gab ordentlich was her. Auch das ein oder andere Pyroteil war zu sehen und auf der Laufbahn wurden teilweise ohrenbetäubende Böller gezündet. Obendrein sind die typisch italienischen Torjubel immer wieder ein Genuss. Jeder, der noch irgendwie in der Lage ist, sich fortzubewegen (auch Gehstock oder Krücken gelten nicht als Entschuldigung) stürmt von der Gegengerade zum Pufferblock an die meterhohen Plexiglaswände, um das Gegenüber durch eindeutige Gesten – und da kennt man in Italien zig Variationen – zu diffamieren. Dieses Schauspiel passiert unabhängig von Alter oder sozialer Herkunft. Vom Kleinkind bis zum Opi, vom Assi bis zum Anzugträger ist hier jeder mit vollster Leidenschaft dabei.

Die Spieler hüpften nur noch in Unterhose bekleidet vor ihrer Kurve. 

Pisas kraftvoller und geschlossener Auftritt gefiel mir aus subjektiver Sicht besser. Die Balustraden waren vollständig behangen, Dutzende schwarz-blaue Fahnen wurden über die gesamte Spieldauer hochgehalten und von einzelnen Fackeln begleitet. Auch gesanglich leisteten die Gäste erstklassige Arbeit. Dank Megafon und Trommeln wurde der Block optimal koordiniert und zu meiner Freude gab es noch dazu einige bekannte Melodien aus Graz. Es war wirklich Rivalität auf hohem Niveau, neben den unzähligen verbalen Anfeindungen und Provokationen auf den Spruchbändern von beiden Seiten, zeigte Pisa aber auch zwei Solidaritätsbotschaften für Livornos Hafenarbeiter, was zu großem Applaus im gesamten Stadion führte.

Nach dem Schlusspfiff feierte Livorno seine Derby-Helden mehr als ausgiebig. Die Spieler hüpften nur noch in Unterhose bekleidet vor ihrer Kurve, als Hausherren hatten sie den Aufstieg in die Serie B praktisch fixiert. Pisa musste als Drittplatzierter hingegen in die Play-Offs um den Aufstieg.

Bevor es für mich wieder nachhause ging, gab es während meiner Wartezeit am Bahnhof noch kleinere Scharmützel zwischen Pisani und den Carabinieri. Mit dem Bus über Bologna kam ich nach einem 32-stündigen Ausflug in längst vergangene Zeiten schlussendlich wieder in Zürich an, um nur sechs Tage später erneut die Reise gen Italien zu Ferrara vs. Roma und dem Umbrien-Derby Perugia vs. Ternana anzutreten.

Fazit:

  • Dieses Derby hat sich seine Bezeichnung meiner Meinung nach noch wirklich verdient.
  • Italien und seine Fankultur sind schon lange nicht mehr tot, die Kurven werden von Jahr zu Jahr wieder voller und bunter.
  • Früher war nicht alles besser, Zeiten ändern sich und einige Ultras haben gelernt, sich an die neuen Gegebenheiten ein Stück weit anzupassen.

Es waren einfach die vielen kleinen Details, die ein stimmiges Bild zeichneten und dieses Aufeinandertreffen zu etwas Besonderem machten.

1 thoughts on “Kurvenblick
Das Old-School Italo-Derby”

  1. grundsätzlich bekommt jeder der sich heute noch hinsetzt und irgend etwas macht, egal ob schreiben oder fotos oder sonstwas erstmal meinen respekt, weil gewürdigt wird das ganze eh so gut wie kaum bzw. wenn dann wird oftmals nur gemeckert.
    erstmal hast du meinen maximalen neid für dieses derby, aber der finanzgott wollte es mir einfach nicht ermöglichen an diesem datum vor ort zu sein. trotzdem kann ich dein geschriebenes absolut nachempfinden und selbst wenn ich nicht dabei war, weiss ich durch deine worte genau wie es gewesen sein muss. im dezember war ich ja gegen prato in livorno und muss sagen, alles was du über das stadion und und tifo geschrieben hast, trifft 100% zu (auch wenn es nicht ganz mit dem derby vergleichbar ist). auch damals, war das in keinsterweise irgend ein optisches feuerwerk, was da abgerissen wurde, dennoch hat es mir von den 90 minuten minimum 85 die kinnlade nach unten fallen lassen. die leidenschaft, die melodien und das ganze drumherum war für mich eines der besten spiele die ich 2017 gesehn hab. und wenn du schreibst, das es absolut keine rolle gespielt hat ob das alles gebrannt hat oder eine bombendetailierte choreo zum vorschein kam, stimme ich dir in dem fall vollkommen zu, weniger ist halt manchmal mehr ( nicht immer aber manchmal)…
    besonders hervorheben möchte ich noch den zwei sätze in deinem fazit…

    „Früher war nicht alles besser, Zeiten ändern sich und einige Ultras haben gelernt, sich an die neuen Gegebenheiten ein Stück weit anzupassen.
    Es waren einfach die vielen kleinen Details, die ein stimmiges Bild zeichneten und dieses Aufeinandertreffen zu etwas Besonderem machten.“

    entgegen vieler „kollegen“ denke ich das wir beide da recht gleich ticken, dennoch sollte man sich einfach mal damit abfinden bzw. nicht immer zurückschauen. es ist nunmal das hier und jetzt und anstatt sich über das gesehene zu freuen wird halt lieber gemeckert. zeiten ändern sich nunmal, das ist der lauf der dinge und niemand wird den aufhalten können. deswegen freue ich mich immer wieder, wenn leute schreiben, egal was sie erlebten, etwas besonderes davon mitgenommen zu haben.
    ich hoffe das wir es 2018 dann doch mal zusammen auf den stiefel schaffen 😉

    cheers christian

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