Was bisher geschah:
Hier könnt ihr euch die bisherigen Einträge rund um die fünf Jungs, die vor dem Fernseher ein Fußballspiel verfolgen, durchlesen. Nun aber viel Spaß mit der aktuellen Ausgabe:
Die Fünf sitzen in völliger Schockstarre vor dem Fernseher. Die erste Halbzeit: Eine Augenweide, ein Traum, ein Jahrhundertereignis, das Ereignis, Wahnsinn. Das Spiel rennt nochmals von der ersten bis zur letzten Minute durch ihren Kopf. Es scheint noch nicht vorbei zu sein. Sämtliche Szenen laufen wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ab. Sie realisieren das eben Gesehene noch nicht. Das Ausgleichstor, kurz bevor der Schiedsrichter zur Pfeife griff, war eine Erlösung. Der folgende Jubel der Fünf ist verklungen. Nun versucht jeder für sich die ersten 45 plus 2 Minuten zu realisieren, ohne Erfolg:
Stegisch: „Was war das bitte?“
Schwarz: „Pssst, mal hören was unsere Fußballphilosophen-Analysten dazu zu sagen haben.“
Allmählich: „Wie ist dessen Name?“
Pariahaska: „Kairos, der alles bezwingt. Er ist der Gott des günstigen Zeitpunkts. Kairos gilt als der Moment, an dem keine Minute, keine Stunde oder sonst eine chronologische, fortschreitende Zeit gebunden ist. Er ist der ideale Zeitpunkt, ist jener Punkt im Zeitraumkontinuum, an dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen, verschmelzen, verrinnen, wie die Uhren Salvador Dalís.“
Allmählich: „In diesem Kairos befanden sich die 22 Akteure am Platz. Sie rannten nicht, sie liefen nicht, keinesfalls spielten sie Fußball. Nein, sie schwebten über das Feld, bezauberten die Fußballwelt, ließen vergessen, dass es noch einen Chronos gibt.“
Pariahaska: „Chronos – der Gott des langen, alltäglichen Zeitabschnitts, der Gott des immerwährenden, unaufhaltsamen Zeitablaufes. Diesen Gott haben die Spieler für die Fußballwelt überwunden. Sie suchten stets den entscheidenden Augenblick, den Moment, bei dem sie aus der alltäglichen Zeit herausgehoben wurden. Es ist ihnen gelungen. Ob sie, ob wir, je wieder dieses Kontinuum verlassen – verlassen wollen?“
Allmählich: „Das glaube ich nicht, Rainbert. Bislang basierte unser Verständnis von Fußball, unsere Taktikkenntnisse und Statistiken auf der strikten Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also auf den auf unseren Erfahrungen aufbauenden Zeitsinn: ohne Chronos keine Analyse. Nun ist alles anders. Nach dem soeben-noch-immer Gesehenen-Sehenden ist Vergangenes-Gegenwärtiges-Zukünftiges nicht mehr klar trennbar, weil es sich nun um ein Kontinuum handelt.“
Pariahaska: „Meinst du damit, dass wir es geschafft haben, dass wir unser Streben nach dem unendlichen Spiel vollendeten? Dass wir uns nun in einer einheitlichen, immerwährenden, vierdimensionalen Struktur der Raumzeit bewegen, im ewigen Fußballspiel, im Zeit-Strafraum-Kontinuum?“
Allmählich: „Kurz: Kairos? – Ja. Am Ende ging es für beide Seiten, den Spielern und uns, darum, den Chronos aufzuheben. Wir wollten dem Zuschauer ermöglichen, aus dem Alltag – aus der Gefangenheit der Zeit – auszubrechen. Heute haben wir es geschafft. Wir haben die Zeitwahrnehmung aufgehoben.“
Pariahaska: „Haben wir den Zusehern dadurch nicht auch das Bewusstsein genommen? Sie sind sich ja nun ihres Chronos nicht mehr bewusst? Ihr Alltag, ihr wirtschaftliches Treiben, ihre Ängste, Sorgen, Probleme, all das ist doch an Chronos gebunden. Zwar waren sie in seinen Zeitfangen gefangen, doch zugleich bewegten sie sich in seiner vorgegebenen Struktur, scheinbar unbefangen von einem Spiel zum nächsten. Nun, im ewigen Spiel, können sie sich gedanklich nicht mehr zwischen den Zeiten bewegen: Vor dem Spiel ist nicht mehr nach dem Spiel, das Spiel wärt nun in aller Ewigkeit. Das Spiel ist.“
Allmählich: „Wir nahmen ihnen das Bewusstsein. Wir nahmen ihnen aber auch die Passivität der Zeit gegenüber. Nun können sie sich aktiv im Zeit-Strafraum-Kontinuum bewegen. Die Zeit bewegt sich nicht mehr um die Fußballfans. Die Fußballfans bewegen sich aktiv in der Zeit, können physisch durch den Platz wandern“
Pariahaska: „Was heißt das?“
Allmählich: „Das ist einfach erklärt. Bislang war die Vergangenheit vor der Gegenwart und bedingte diese, und die Gegenwart war vor der Zukunft und bedingte wiederum diese. Diese Wahrnehmung entsprach der linearen Vorstellung nach Chronos. Demgegenüber setzt ab nun die Wahrnehmung ein, die die Ereignisse und Zustände der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in Beziehung zu einem ursprünglichen Ausgangszustand setzt, der nie vorübergeht.“
Pariahaska: „Das heißt das ewige Spiel, das Urspiel wird nun ständig reproduziert. Wir befinden uns in einer Schleife. Einer wohlgemerkt angenehmen Schleife. Ein Gott des idealen Moments bestimmt unser Sein.
Allmählich: „Wie ist dessen Name?“
Pariahaska: „Kairos, der alles bezwingt. Er ist der Gott des günstigen Zeitpunkts…
Adelmann: „Puh, heut haben’s wieder die Experten raushängen lassen.“
Stegisch: „Kein Wort versteht man von dem Kauderwelsch.“
Posch: „Irgendwas mit Zeitschleife, das perfekte Spiel, das nie zu Ende geht und irgendwelche Götter.“
Adelmann: „Darauf ein Spritzer für mich.“
Schwarz: „Wow, was für eine Halbzeit: vier Tore.“
Troissler: „Das Runde fand viermal ins Eckige.“
„Der Ball ist ein Erdapferl“, brüllt Posch. „Genauso wie die Erde eine Potsdamer Kartoffel, weil rund ist gar nichts.“