Das Zeit- und Strafraum Kontinuum: 
Minute 45+2 – Vierundvierzig beseelte Füße ihn zu streicheln

Was bisher geschah:

Hier könnt ihr euch die bisherigen Einträge rund um die fünf Jungs, die vor dem Fernseher ein Fussballspiel verfolgen, lesen. Nun aber viel Spaß mit der aktuellen Ausgabe:


Stegisch: „Kannst du bitte deine Käsefüße aus meinem Gesicht nehmen?“

Die Fünf sitzen, liegen und lehnen auf und rund um eine zu klein geratene Couch im Wohnzimmer. Von dort aus sind ihre Blicke auf den zu groß geratenen Fernsehbildschirm gerichtet. Vier zusammengerückte Freunde finden Platz am ledernen Sofa. Dem Fünften bleibt der ungeliebte Teppich am Fußboden. Jeder, der aufsteht, um sich Erfrischungen zu holen oder sich zu erleichtern, hat unweigerlich das Pech, den fünften Platz einzunehmen. Ein Gang zur Toilette ist folglich stets ein wohlüberlegter Schritt. Die neue Innovation am Teppich ist seit kurzem ein großer Polster, der eigentlich zum darauf Sitzen gedacht ist, gerne aber auch als Kopfkissen benutzt wird. Doch wandert der Kopf des unbequem liegenden Fünften auf den Polster, kommt er den Füßen der vier erhaben Sitzenden oft gefährlich nahe. Eine leichte Fuß-Kopfkollision führte diesmal zur Käsefüßeaussage von Stegisch und eröffnet sogleich ein neues Gesprächsthema.

Deine Füße sind bestenfalls knochenbruchanfällige Stelzen eines Amateurs.

Posch: „Wie kannst du es wagen, Füße zu beleidigen? Die heiligen Beine des heiligen Spiels. Zeige dich gütlich, meine seligen Gebeine berühren zu dürfen. Womöglich finden meine knochigen Überreste eines Tages ihre himmlische Ruh’ in den eisigen Tiefen einer Fussballgruft unterhalb eines Stadions.“
Troissler: „Wie kannst du es wagen, Käse zu beleidigen? Die g’schmackige Beilage, die es manchmal verdient, zur Hauptspeise zu werden.“
Stegisch: „Das mit dem Käse ziehe ich wegen des unwiderstehlichen Geschmacks unserer milchigen Nahrungsmittelquelle zurück. Doch deine Füße, Herr Posch, spielen nicht einmal in der Unterliga, sind daher bestenfalls knochenbruchanfällige Stelzen eines Amateurs.“
Schwarz: „Jedes Bein, das zum Fussballspiel verwendet wird, ist ein beseeltes. Weil ein Fussballspieler den Ball nicht fangen darf, kann er auch niemals die vollständige Kontrolle über das Gerät erlangen. Er muss ihn unter Aufbietung aller körperlichen Geschicklichkeit zu bändigen versuchen. In keinem Sportspiel ist der Körper so umfassend im Einsatz, denn der Ball darf trotz des Handspielverbots auf jede erdenkliche Weise gespielt werden: Brust, Oberschenkel, Kopf und Hintern sind mit im Spiel. Der Stoß mit dem Fuß ist zwar typisch, muss aber gelernt sein. Deshalb ist nur ein beseeltes Bein ein spielendes Bein. Im Gegensatz zu beinah…“

Inzwischen ist eine sehr unterhaltsame erste Halbzeit zu Ende gegangen, es steht 2:2. Die Spieler am Rasen wirken gerädert, als ob sie bereits 90 Minuten in ihren Beinen hätten. Zum Teil blicken sie sich ungläubig in ihre Gesichter, ob der vier Tore, die bereits gefallen sind. Doch die Spieler beider Mannschaften sind zugleich entschlossen, ihre vierundvierzig Beine in der zweiten Halbzeit zu benutzen, um das erneute Führungstor zu erzielen.

American Football – ich würde eher Wirf-Mich-Und-Halt-Mich-Dann-Ganz-Fest-Ball dazu sagen. 

Adelmann: „Das Bein-nah Spiel ist ja gerade auch deshalb interessant, weil der Ball an sich die zentrale Rolle im Spiel annimmt. Anders als im American Football – eine völlige Fehlbezeichnung im Übrigen, ich würde eher Wirf-Mich-Und-Halt-Mich-Dann-Ganz-Fest-Ball dazu sagen – Rugby oder Handball, wird der Ball nicht gefangen, umklammert, festgehalten oder ergriffen. Durch das Ergreifen verliert der Ball seine Bedeutung, seine Freiheit sich frei zu entfalten. Beim Fussball kommt der Ball den Körperteilen, meist den Beinen, immer nur kurz nahe. Er behält seine Freiheit.“
Posch: „Ein Möchtegern-Heidegger würde sagen, dass die Freiheit und das Dasein durch die Notwendigkeit des Be-greifens gekennzeichnet ist. Erst im Spiel kann man sich frei entfalten und ist nicht von Zwecken bestimmt. Da sich das Fussballspiel trotz statistischer Versuche wie kein anderes gegen Berechnungen sträubt, kommt das Spiel in seiner reinsten Weise am Rasen zum Ausdruck.“
Schwarz: „Meine Rede. Der Fussballspieler ergreift den Ball nicht, er muss ihn aber begreifen, er muss sich in seine Geschwindigkeit, Flugbahn, Flugeigenschaft, Oberfläche, Härte und seine Befindlichkeit im Raum hineinversetzen. Denn er hat nur kurz Zeit, den Ball anzunehmen und weiterzuleiten, ohne dessen Eigenschaft, wie beim Fangen, zu brechen. Fangende Hände erkennen den Ball nicht als gleichwertigen, freien Mitspieler an. Sie umfangen ihn, kontrollieren ihn, disziplinieren ihn, um ihn danach sofort wegzuschleudern. Da entsteht keine gesunde Beziehung zwischen Spieler und Ball.“
Posch: „Daher tänzeln gute Spieler über das Rasenparkett und streicheln das Balli.“
Stegisch: „In guten Beziehungen werden Bälle gestreichelt.“
Troissler: „Manch hölzerner Körper hackt mit seinen Stollen aber ordentliche Löcher ins Parkett.“
Stegisch: „Stollen gibt’s nicht mehr. Die Plastikballerinas von heute eignen sich sogar für einen Parketttanz am Opernball.“

In guten Beziehungen werden Bälle gestreichelt.

Posch: „Die Erfindung der Stollen war 1954 die technische Neuerung durch den Sportartikelhersteller Adolf Adidas Dassler. Die Stollen ermöglichten der deutschen Nationalmannschaft im durchnässten Berner Wankdorfstadion ein rutschfreies WM-Finale gegen die haushoch favorisierten, aber über den Rasen gleitenden Ungarn zu spielen.“
Stegisch: „Technische Neuerung? Wie haben die vorher gespielt: etwa barfuß?“
Posch: „Ja, auch. Die indische Nationalmannschaft hat sich zur WM 1950 qualifiziert. Sie haben all ihre Qualifikationsspiele mit Bandagen gespielt. Sie verzichteten dann freiwillig auf die Teilnahme an der WM, als sie hörten, dass das Tragen von Fussballschuhen Pflicht sei. Die klobigen Dinger von damals kamen ihnen nicht an ihre Beine.“
Stegisch: „Wie klobig konnte Leder schon sein? Ich selbst spielte immer nur mit meinen Lederschuhen.“
Adelmann: „Die Dinger waren schon mal deshalb schwer, weil die Spitzen mit Stahlkappen verstärkt waren. Die englischen Hotspur-Schuhe waren eigentlich eher Stiefel und wogen rund 600 Gramm. Damit musst du mal laufen. Vielleicht noch im Regen.“
Posch: „Es war ja üblich, den Ball mit der Spitze zu schießen. Damit die Zehen nicht abfallen, mussten die Spitzen verstärkt sein.“
Troissler: „Sonst erlebst du dein blaues Zehenwunder.“
Posch: „Mit der Pike, die ja eigentlich eine Stichwaffe ist, versetzt du den Gegner den Toresstoß.“

In diesem Moment trifft eine ohne Stahlkappen gestärkte Fußspitze den Kopf des am Boden Liegenden erneut.

Stegisch: „Aaaahhh, ich bin getroffen.“

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