Das Zeit- und Strafraum Kontinuum: 
Minute 48 – Fussballeuropa der Regionen, ein Planspiel (Teil 1)

Was bisher geschah:

Hier könnt ihr euch die bisherigen Einträge rund um die fünf Jungs, die vor dem Fernseher ein Fussballspiel verfolgen, durchlesen. Nun aber viel Spaß mit der aktuellen Ausgabe:


Schwarz: „Vielleicht geht es in naher Zukunft nicht mehr ums Leiberl Kaufen. Vielleicht besinnen wir uns fußballerischer Werte: Eintracht statt Zwietracht, Spaß statt Geld, Arbeiterverein statt Konsumausverkauf, spielen, nicht wetten.“

Adelmann: „Ein Wunschdenken.“

Stegisch: „Ein schönes Wunschdenken. Ich wünsche mir dabei auch wieder mehr Rückhalt zu einem Verein. Keine Schönwetterfans, die den Verein jährlich nach deren Erfolg aussuchen. Keine Fans, die immer zu den Gewinnern halten, damit sie niemals zu den Verlierern gehören – auch ein Spiegel unserer erfolgssüchtigen Gesellschaft.“

Troissler: „Wünsch dir was!“

Schwarz: „Im UEFA-FIFA-Komplex funktioniert das halt nicht. Die Mannschaften müssten sich von den Schweizer Herren abspalten.“

Adelmann: „Wir brauchen ein Fussballeuropa der Regionen.“

Posch: „Hmm… angenommen sämtliche Regionen Europas würden in naher Zukunft auf ihre Fussballunabhängigkeit pochen und ihre „große“  und „kleine“ Vergangenheit bemühen, um ihre Eigenständigkeit zu legitimieren. Die Regionen müssten ja Gründe finden, warum sie nicht mehr unter einem europäischen Dachverband sein wollen. Meine Freunde, da kommt Geschichte ins Spiel.“

Stegisch: „Europa wird sich spalten. Ihr werdet sehen: Im August 2025 wird es hunderte eigenständige europäische Regionsligen geben“.

Meine Freunde, da kommt Geschichte ins Spiel.

Die Fünf zerlegen Europa gedanklich in seine regionalen Einzelteile. Das Spiel im Fernsehen wird kurz vergessen. Ohne sich abgesprochen zu haben bemühen sie sich ihrer Handytastaturen und suchen nach Unabhängigkeit strebenden Regionen Europas und deren Argumente für ihren Regionalismus im allwissenden WEB. Jeder findet Regionen, die nichts von einem gemeinsamen Europa halten. Jeder überlegt sich, welche Auswirkungen das auf den Fussball hätte, bis es aus Posch plötzlich herausbricht: „Es wird zu einem Fussballzerfall kommen. Die Schotten werden sich ihrer piktischen Vorfahren besinnen, an deren Beherrschung bereits die Römer scheiterten. Die dadurch gewonnene Einsicht, wirklich „anders“ zu sein, wird ihnen helfen die Scheidung Großbritanniens aus der EU zum Anlass zu nehmen, sich ihrerseits von England loszusagen. Wales, bis ins späte Mittelalter hinein nicht von den Engländern beherrscht, wird seine welsche Sprache und keltische Tradition wiederbeleben und sich ebenfalls von England lossagen. Die nördlich von Schottland gelegenen Färöer-Inseln sind bereits durch ein kaltes Meer von Großbritannien getrennt. Ihre 50.000 Einwohner werden sich dazu durchringen von nun an allein der Globalisierung zu trotzen und sich ganz auf den Fischfang vor ihrer Insel konzentrieren. Den Vereinen wird das nur zugutekommen, da sie sich lokalen Derbys widmen werden können und endlich keinem europäischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert sein werden.“

Die Fünf blicken einander stumm und ob des gerade geöffneten Zerfallsutopie-Geistes etwas konsterniert an. Dennoch spielen sie das Planspiel weiter.

Adelmann: „Dänemark wird, angetrieben vom Zerfallsprozess Großbritanniens, sein Streben nach Größe vorantreiben, ist man doch flächenmäßig nur der „kleine Skandinavier“. Zwar besaß man bis vor kurzem Grönland und war mit diesem in den 1970er-Jahren sogar kurzzeitig Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft, doch forcierte die größte – Stimmen behaupten auch kälteste – Insel der Welt ihr Verlangen nach Unabhängigkeit. Grönland musste 2018 nach einem Referendum in die Unabhängigkeit entlassen werden. Dänemark wird daher vor allem mit großen von ihnen finanzierten Bauprojekten versuchen den Färöer-Inseln, Schottland und Wales näherzukommen. Den Vereinen wird das nur zugutekommen, da sie sich lokalen Derbys widmen werden können und endlich keinem europäischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert sein werden.“

Troissler: „Das ist alles sehr an den Haaren herbeigezogen.“

Asterix wird als eine Art Jesus der Unabhängigkeitsbewegung gefeiert. 

Schwarz: „Nicht unbedingt. Denkt an Katalonien: Katalonien, wo bereits seit 1983 in allen lokalen Schulen Kinder bis zum achten Lebensjahr Katalanisch – nicht Spanisch – sprechen, wird Barcelona zu seiner neuen Hauptstadt erklären. Carles Puigdemont wird in seine Sommerresidenz auf Mallorca ziehen, von wo aus er tägliche Protestzüge der Inselbewohner beobachten wird. Die Balearen werden sich Katalonien mit dem „Wasserkopf“ Barcelona“ lossagen wollen. Das Baskenland, das bis 2011 noch mit Terrorakten versuchte seine Unabhängigkeit von Spanien zu „erbomben“, wird dem katalanisch-balearischen Beispiel folgen, diesmal freilich mit friedlichen Mitteln. Den Vereinen, allen voran dem großen F.C. Barcelona, wird das nur zugutekommen, da sie sich lokalen Derbys widmen werden können und endlich keinem europäischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert sein werden.“

Stegisch: „Korsika, die kleine seit 1769 zu Frankreich gehörende Insel, wird sich rasch radikalisieren. 2014 gab die Unabhängigkeitsbewegung den bewaffneten Kampf noch auf, aber die europäischen Separatistenbewegungen werden den Wunsch, aus der Insel Korsika einen Staat zu machen, neu entfachen. Zur separatistischen Idolfigur wird, wie in anderen Noch-Teilen Frankreichs auch: Asterix. Der kleine Gallier, der bereits dem großen römischen Reich trotzte und dessen kleines Dorf stets unbeugsam blieb, wird als eine Art Jesus der Unabhängigkeitsbewegung gefeiert. Große Statuen von ihm und seinem beleibten Freund Obelix werden auf der Insel als Symbol der korsischen Bewegung gebaut werden. Der F.C. Bastia wird sich freuen: Der Verein wird sich endlich lokalen Derbys widmen können und keinem französischem Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert sein.“

Troissler, nun doch angestachelt: „Außerdem wird sich der F.C.Bastia in F.C. Asterix umbenennen. Weiter zu Italien: Venetien wird sich seiner historisch republikanischen Vergangenheit besinnen, sich von Rom lossagen und von seiner Hauptstadt Venedig aus den Schiffstourismus im Mittelmeer mittels einer Flotte riesiger Kreuzfahrtdampfer beherrschen. Mailand wird sich den „Dieben Roms“ ebenfalls entsagen und ihre Region Lombardei zur Welthochburg der Haute Couture ausbauen. Selbstverständlich wird alle Welt zur Modenschau geladen, auch die Freunde der Apenninenhalbinsel, jedoch muss an der Grenze zur Lombardei der Pass gezückt werden. Fußballerisch wird man sich der Mailänder Derbys besinnen, um endlich keinem gesamtitalienischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert zu sein.“

Den Vereinen wird das nur zugutekommen, da sie sich lokalen Derbys widmen werden können und endlich keinem europäischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert sein werden.

Inzwischen spielt sich auf dem Fernsehbildschirm eine inhaltsleere Minute ab, in der eine der beiden Mannschaften den Ball gekonnt in ihren Reihen hält, ohne jedoch den Pass in die Tiefe zu suchen.

Posch: „Die nordwestliche Nachbarstadt Turin wird derweilen überlegen, wie sie das im 18. Jahrhundert bestehende Königreich Savoyen-Piemont, inklusive der Insel Sardinien, wieder ausrufen kann, ohne dabei dem französischen Staat wegen der teils in den Rhône-Alps gelegenen Gebieten, die dann Turin als Hauptstadt hätten, allzu sehr auf den Schlips zu treten. Immerhin wäre der Mont Blanc dann der höchste Berg Savoyen-Piemonts, nicht Frankreichs. Frankreich, ohnehin beleidigt, weil seit einigen Jahren der im Kaukasus gelegene Elbrus als höchster Berg Europas gehandelt wird, wird sich verbissen gegen das Königreich Savoyen-Piemont wehren, damit sie den Mont Blanc – immerhin höchster Berg der EU – behalten können. Fußballerisch selbstverständlich ein Genuss. Turiner Derbys werden in Turin und auf der Insel Sardinien stattfinden. Cagliari Calcio wird von den fremden Clubs aus Turin wenig begeistert sein und wird überlegen eine eigene sardinische Liga zu gründen. Generell sind Turiner und Sardinier froh, keinem gesamtitalienischen Konkurrenzkampf mehr ausgeliefert zu sein.“

Der Fussballeuropa-Zerfallsutopie-Geist ist aus seiner Flasche gelassen. Die Fünf denken an künftig mögliche Fussballzeiten, in denen es keinen Wettkampf auf europäischer Ebene mehr gibt. Der Geist wird von ihnen weitergesponnen.

© spielfrei.at

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