Kurvenblick
Eine historische Nacht in Belgrad

Exakt 70 Sekunden reichten den Spielern von Crvena Zvezda, zu Deutsch “Roter Stern Belgrad”, um Ende August des Vorjahres einen 0:2 Rückstand aufzuholen, das 0:0 aus dem Hinspiel wettzumachen und somit zum elften Mal in Folge den Traum vom Einzug in die Gruppenphase der Champions League für die roten Bullen platzen zu lassen. Ein grandioser Erfolg für die Mannschaft aus Serbien. Der Jubel bei ihren schätzungsweise 9.000-14.000 Fans in Salzburg war grenzenlos. Im Aufstiegstaumel stürmten sie auf den Rasen der Bullen-Disco und raubten ihren Idolen buchstäblich das letzte Hemd. Spontane Freudensausbrüche dieser Art werden von den Herren der UEFA ja äußerst ungern gesehen, weshalb Roter Stern zum wiederholten Male hart bestraft wurde, weitere Stadionsperren inklusive. Schon das Hinspiel der zweiten Quali-Runde gegen Salzburg musste aufgrund von rassistischen Äußerungen vor leeren Rängen ausgetragen werden. Die in Salzburg ausgefasste Strafe wurde schlussendlich aber “nur” auf die beiden ersten Auswärtsspiele in der Gruppenphase reduziert.

Was müssen sich die Salzburger grün und blau geärgert haben, dass nicht sie es waren, die ihren ersten Auftritt in der Königsklasse gemeinsam mit Liverpool, PSG und Napoli bestreiten durften. Rund 26 Jahre nach Einführung der UEFA Champions League gelang dem FK Roter Stern mit diesem Triumph erstmals die Qualifikation für dieses Turnier und damit die nominelle Rückkehr in den europäischen Spitzenfußball. 1991 stand man in Bari sogar im Finale des Europapokals der Landesmeister und konnte diesen Bewerb auch für sich entscheiden. Die Balkankriege, der Ausschluss der jugoslawischen Klubs von der UEFA und die daraus resultierenden finanziellen Folgen warfen den Klub weit zurück. In den 00er-Jahren avancierte Lokalrivale Partizan zwischenzeitlich zur Nummer eins des Landes, die nationale Dominanz von Roter Stern war für lange Zeit dahin.

Diese Geschichte über Roter Stern und seine gefürchteten Fans, Ultras und Hooligans stellte mich durchaus vor eine Herausforderung. Jedes mehr oder weniger relevante Printmedium in der Fußballszene berichtete bereits darüber. Vor allem das Belgrader Derby ist mittlerweile zu einem Schaulaufen deutschsprachiger und anderweitiger „Hopper“ verkommen, der Reiz durch die omnipräsente Berichterstattung fast vollkommen verflogen. Da verwundert es auch nicht, dass im Internet von findigen Geldmachern mehrtägige Touren zum Derby angeboten werden. Jedem Leser fällt bei den Worten Belgrad und Fußball sicherlich auf Anhieb etwas ein. „Da geht’s richtig ab“, „Pyyyyro“ oder „einfach nur krank“, so in etwa dürften die ersten Gedanken dazu sein. Hinter diesem Verein und dessen Kurve stecken jedoch mehr als extreme Pyroshows, Hass-Duelle und Ausschreitungen.

Der erste Auftritt von Roter Stern in der Champions League stand auf der Tagesordnung…

Freiheit bedeutet, an einem Dienstagmorgen im September in der S-Bahn die müden Gesichter der Mitfahrenden zu betrachten und selbst mit einem Grinsen am Flughafen auszusteigen. Wieder einmal alles richtig gemacht. Nach kurzem, entspannten Flug hatte ich nach einigen Jahren wieder einmal serbischen Boden unter meinen Füßen. Mit mir waren auch schon einige Fans aus der Schweiz und Süddeutschland an Board. Grund für deren Reise war jedoch nicht das „ewige Derby“, sondern ein noch viel bedeutenderes Ereignis. Der erste Auftritt von Roter Stern in der Champions League stand auf der Tagesordnung, noch dazu gegen niemand geringeren als den SSC Napoli.

Laut offiziellen Angaben waren die verfügbaren 55.000 Tickets für das Spiel schon nach drei Stunden allesamt vergriffen. Wohin diese Tickets so rasch gingen, bleibt wohl ein Rätsel. Guter Rat war nun im wahrsten Sinn teuer. Meine Presseanfrage lehnte der Verein aufgrund der immensen Nachfrage ab und auch über zahlreiche andere Kanäle war nichts zu kriegen. Meine Rettung war letztendlich die Schwägerin meines Spielfrei-Kollegen Alex. Sie ist nicht nur Serbin und lebt in Belgrad – sie konnte mir auch über ein serbisches Pendant zu ebay eine Karte ersteigern. Über den Kaufpreis hülle ich in diesem Fall aber den Mantel des Schweigens.

Politik, Mafia und Fußball

In Serbien bekennen sich circa neunzig Prozent der Bevölkerung zu einem der beiden großen Teams aus Belgrad, also Roter Stern oder Partizan. In der Form kommt das wohl in kaum einem anderen Land Europas ein zweites Mal vor. Grund dafür ist sicherlich, dass es im ehemaligen Jugoslawien nur eine große Liga gab und beide Belgrader Vereine darin sehr erfolgreich waren. Viele andere heutige Erstligisten konnten damals sportlich hingegen nicht einmal ansatzweise mithalten. Außerdem werden die beiden Hauptstadtklubs auch medial sehr stark ins Licht gerückt, wodurch man im Alltag kaum an ihnen vorbeikommt.

Viele Kenner des serbischen Sports malen ein düsteres Bild: Kriminelle Machenschaften, ein Kommen und Gehen dubioser Persönlichkeiten und intransparente Geschäfte überall. So hört man etwa von Vereinsverantwortlichen, die auf billigen Baugrund spekulieren und deshalb ihren Verein bewusst in die Pleite treiben. Oder von millionenschweren Transfers, deren Beträge schlussendlich weit nach unten korrigiert werden und niemand sich die Differenz erklären kann. Insofern verwundert es auch nicht, dass wohl nur die wenigstens regelmäßig wegen dem Fußball an sich ins Stadion pilgern.

Eine linke Fanszene sucht man vergeblich.

Die meisten Fangruppierungen in Serbien vertreten einen russophilen Nationalismus, der sich gegen einen EU-Beitritt, die USA und die Unabhängigkeit des Kosovo richtet. Mit diesen Positionen sind sie in weiten Teilen der serbischen Gesellschaft anschlussfähig. Dazu ist Rassismus im serbischen Fußball weit verbreitet und weitestgehend toleriert. Eine linke Fanszene sucht man vergeblich. Die offensichtlichsten Akteure des Rechtsextremismus im serbischen Fußball sind heute die Ultras „United Force“ des Erstligisten FK Rad. Hitlergrüsse und Affenleute gehören bei ihnen zum traurigen Alltag, Fahnen und Banner mit rechter Symbolik wie der Konföderierten-Kriegsflagge, dem Keltenkreuz oder dem SS-Totenkopf sind allgegenwärtig.

Im Jahr 2010 konnte man beobachten, welches enorme Mobilisierungspotential rechte Hooligangruppen in Serbien haben. Rund 6.000 Hooligans und Rechtsextreme verwüsteten die Belgrader Innenstadt und versuchten, die Teilnehmenden der Gay-Pride-Parade zu verprügeln. Die Bilanz: über 150 Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe. Dabei erhielten sie Unterstützung von der serbisch-orthodoxen Kirche. Diese forderte ein Verbot der Gay-Pride und verglich Homosexuelle mit Kinderschändern. Einige Priester segneten rechtsextreme Hooligans, bevor diese auf die Straße gingen und versuchten, Schwule und Lesben zu lynchen.

Auch Spiele der serbischen Nationalmannschaft werden von rechten Hooligans als Bühne für ihre Ideologie genutzt. In den vergangenen Jahren kam es sogar zu zwei Spielabbrüchen, die international für Schlagzeilen sorgten. Maßgeblich beteiligt an beiden war Ivan Bogdanov, genannt „Ivan der Schreckliche“, rechtsextremer Hooligan von Roter Stern Belgrad. Sein Konterfei ging durch sämtliche Medien. Bogdanov gehört der Ultragruppe „Ultra Boys“ an, gilt als extrem gewaltbereit und soll 2008 an einem Brandanschlag auf die US-Botschaft im Kosovo beteiligt gewesen sein. Zudem ist er Mitglied der radikalen nationalistischen Bewegung 1389 (als Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld), die Serbien von Nicht-Serben “säubern“ will.

Die bekanntesten Bilder in diesem Zusammenhang sind vermutlich jene aus Genua vom 12. Oktober 2010. Nach nur sechs Minuten wurde damals das Spiel abgebrochen, Italien am grünen Tisch der Sieg zuerkannt. Eine halbe Stunde zuvor waren die Fernsehkameras das erste Mal auf einen muskelbepackten, volltätowierten und vermummten Mann geschwenkt. Da saß er rittlings auf dem Zaun des Stadio Comunale Luigi Ferraris in Genua, zündete Leuchtraketen an, verbrannte die Albanische Flagge und schnitt in aller Ruhe das Sicherheitsnetz mit einer Blechschere durch. Diese „Bestie“, wie er von italienischen Medien sogleich getauft wurde, legte sich wie im Rausch mit dem gesamten Stadion an. Wie die Fans Scheren, Messer und anderes Werkzeug sowie eine Unmenge an pyrotechnischem Material in die Arena bringen konnten, können die italienischen Ordner wohl selbst nicht erklären. Bereits am Nachmittag hatte es Ausschreitungen gegeben. Extremisten von Roter Stern griffen den Bus des serbischen Teams an. Ihr Ziel war Vladimir Stojkovic, Torhüter von Partizan Belgrad. Für sie gilt er als Verräter, weil er bei Roter Stern groß geworden war. Stojkovic gelang bei diesem Vorfall jedoch die Flucht aus dem Mannschaftsbus, in der Aufstellung für das Spiel tauchte er danach allerdings nicht mehr auf. Das Verbrennen der albanischen Flagge, die inoffiziell auch als jene des Kosovo dient, war an diesem Abend ebenfalls kein Nebenaspekt. Die Ereignisse in Genua sollten eine politische Demonstration gegen die Unabhängigkeit des Kosovo sein. Die Mehrheit der Serben und Ultras wollen diese Unabhängigkeit weiterhin nicht akzeptieren. Nationalistische Kreise in Serbien haben in diesem Zuge wieder an Zulauf und Stärke gewonnen.

Serbische Fans stürmten das Spielfeld und griffen Spieler der albanischen Mannschaft an.

Vier Jahre nach diesen Ereignissen war „Ivan der Schreckliche“ erneut an einem Spielabbruch beteiligt. Im Oktober 2014 skandierten die serbischen Fans im Belgrader Stadion beim Spiel gegen Albanien im Kollektiv „Tötet die Albaner“, bis plötzlich eine Drohne auftauchte, an der eine Flagge Großalbaniens befestigt war. Diese enthält mehrere Elemente, die politisch überaus brisant sind. Zum einen zeigt sie den doppelköpfigen albanischen Adler auf rotem Grund, wobei der Untergrund die Umrisse von „Großalbanien“ darstellt – ein Gebiet, das neben dem aktuellen albanischen Staatsgebiet auch Teile von Griechenland, Mazedonien, Serbien und Montenegro sowie den kompletten Kosovo umfasst. Es ist die Wunschvorstellung albanischer Nationalisten, alle diese mehrheitlich von ethnischen Albanern bewohnten Regionen in ihren Fantasiestaat einzugemeinden. Während die Drohne knapp über das Spielfeld segelte, zupfte ein serbischer Spieler die Flagge herunter, woraufhin er von albanischen Spielern attackiert wurde. Serbische Fans stürmten danach das Spielfeld und griffen Spieler der albanischen Mannschaft an. Die Drohne soll von Olsi Rama, dem Bruder des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama, auf das Spielfeld gelenkt worden sein.

Wie weit diese Abneigung gehen kann, zeigte sich vorigen Herbst auch vor dem Champions League-Spiel zwischen Roter Stern und Liverpool. Aus Furcht vor Anfeindungen durfte der Schweizer Nationalspieler Xherdan Shaqiri, ein gebürtiger Kosovare, nicht zum Hinspiel nach Belgrad reisen. Zu groß erschien Trainer Jürgen Klopp die Gefahr, dass sich Shaqiri im Belgrader Stadion für seine Doppeladler-Geste bei der WM wie vor einer Art Volksgericht verantworten müsste. Gerade dieser Fall zeigt wieder, dass es keine scharfen Grenzen zwischen Fußball und Politik gibt. Manchmal ist alles sogar so unübersichtlich, dass ein englischer Klub von einem Konflikt betroffen ist, der sich auf dem Balkan abspielt, weil ein Schweizer Nationalspieler in Russland eine albanische Jubelgeste gezeigt hat. Das kann einen Fußballverein überfordern. Das Manöver sieht wie ein Kniefall aus: ein Kniefall vor jenen, die schon lange Stimmung gemacht haben. Bereits kurz nach der Gruppenauslosung hatte der Generaldirektor von Roter Stern, Zvezdan Terzic, gesagt, Shaqiri werde unter einem „unglaublichen psychologischen Druck“ stehen, wenn er die Reise nach Belgrad antrete. Das klang schon fast nach einer Drohung. Und die Botschaft, die mit Klopps Entscheidung nun natürlich auch mitschwingt, ist diese: Wenn bloß lange genug Druck ausgeübt wird, lässt man sich irgendwann davon beeindrucken und gibt nach. In diesen politischen Wirren überrascht es nur bedingt, dass man auf der Internetseite der Fangruppen an zentraler Stelle keine sportlichen Parolen findet, also etwa eine Unterstützungsbotschaft für ihren Klub, sondern eben den Satz „Kosovo ist Serbien“.

Zum Phänomen des Hooliganismus trägt allerdings auch die wirtschaftliche und soziale Lage bei. In einem Land, in dem ein Haushalt im Durchschnitt mit 400 Euro auskommen muss und in dem das Heizen im Winter für viele ein Luxus ist, finden arbeitslose Männer in der oft gewalttätigen Identifikation mit einem Fussballklub ein Ventil für ihren Frust und ihre Hoffnungslosigkeit.

Die „Tapferen“ von Belgrad, der Balkan-Krieg und Arkans Tiger

In der Nordkurve mit ihren 10.000 Plätzen befindet sich die Heimat einer der wohl bekanntesten und ebenso gefürchtetsten Fangruppierungen Europas, der Delije 1989 (die „Tapferen” oder „Mutigen“). Zwar kategorisieren einschlägige Fanzines und Homepages die „Delije“ immer wieder als Ultras, doch sind die Fans von Roter Stern Belgrad viel mehr, als dass man sie stumpf als Ultras abstempeln könnte. Derzeit schätzen nicht wenige Kenner die Delije als „stärkste“ Kurve Europas ein. Durch die immens gute Organisation, eine wahnsinnige Lautstärke der Gesänge, großartige Choreographien und natürlich die beeindruckende Masse innerhalb des Stadions wirkt dies für den Betrachter wie das Paradebeispiel einer funktionierenden Kurve.

Die Verwicklung rechter Hooligans in die Politik hat eine lange Tradition im Land.

Die Delije fungiert dabei als Dachorganisation aller Nordkurvengänger, die sowohl Untergruppen wie die Belgrade Boys 2000, Heroes 1994, Brigate 1994 oder Ultra Boys 1993 als auch Einzelpersonen vereint. So ist es für jeden möglich, im direkt unter der Haupttribüne gelegenen Fanshop offizielle Delije-Artikel zu erwerben. Vom T-Shirt bis hin zum Ninja-Zipper ist hier für jede Gelegenheit das passende Outfit zu finden. In den 1990er-Jahren wurden in der Nordkurve einige Plätze so eingefärbt, dass sie in weißer, kyrillischer Schrift das Wort „Delije“ zeigen. Eine deutliche Sympathie- und Respektsbekundung des Vereins gegenüber seinen treuesten Fans. Oftmals ist in der Nord auch eine Fahne mit dem Schriftzug „Orthodox brothers“ zu sehen, die für Freundschaft zu den Anhängern von Olympiakos Athen und Spartak Moskau steht. Spricht man über die Belgrader Fanszene, egal ob von der Nordkurve des Marakanas oder der Südkurve Partizans, kommt man um eine Retrospektive der Kriegsjahre nicht herum. Roter Stern gilt seit jeher als serbisch-national, Partizan als links-”jugoslawisch”. Die Verwicklung rechter Hooligans in die Politik hat eine lange Tradition im Land.

In den späten 1980er-Jahren gleicht Jugoslawien einem riesigen Pulverfass. Der Vielvölkerstaat driftet mit atemberaubender Geschwindigkeit auseinander. Zehn Jahre ist Staatsgründer Josip Broz Tito nun schon tot, der Einfluss der einst allmächtigen kommunistischen Partei schwindet unwiederbringlich. Die unterdrückten nationalistischen, religiösen und ethnischen Bruchlinien treten nun offen zutage. In Kroatien und Slowenien werden Wahlen abgehalten, die Bevölkerung stimmt hier wie dort mit überwältigender Mehrheit für die Schaffung souveräner Staaten und für die Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Belgrad. Serbische, kroatische und bosnische Nationalisten verschärfen fast täglich den Ton der Attacken.

In dieser turbulenten Zeit stattet Zeljko Ražnatovic, bekannt auch als „Arkan der Tiger“, der Führungsriege der Nordkurve regelmäßig Besuche ab. Er ist damals so etwas wie der Sicherheitschef von Roter Stern. Der glühende serbische Nationalist mit besten Beziehungen zum jugoslawischen Geheimdienst gilt aber gleichzeitig als Boss der Belgrader Unterwelt. Auf sein Konto gehen Morde und Raubüberfälle, von Interpol ist er zur Fahndung ausgeschrieben und bereits mehrfach aus dem Gefängnis ausgebrochen. Dass es Krieg geben wird, ist bald jedem klar, der die Zeitungen liest. Arkan weiß das ebenso wie sein diskreter Förderer Slobodan Milosevic. Die Beziehung der beiden ist bis heute geheimnisumwittert. Aber der serbische Präsident soll die Weisung gegeben haben, unter den Anhängern des Klubs Parteigänger und Fußsoldaten zu rekrutieren.

Die Tiger-Milizen ziehen eine blutige Spur durch die Aufmarschgebiete des Militärs.

Am 11. Oktober 1990 gründet Ražnatovic schließlich die paramilitärische Serbische Freiwilligengarde („Srpska Dobrovoljacka Garda“). Schon Monate davor wurden in der Nordkurve neben den Fahnen des Klubs auch serbische Flaggen geschwungen. Arkans nationalistische Tiraden finden großen Anklang bei den „Delije“, die nicht nur für ihren Klub kämpfen wollen, sondern auch für ein starkes, großes und mächtiges Serbien. Viele wollen dabei sein, 10.000 Männer werden insgesamt ausgebildet, der harte Kern umfasst jedoch nur 150 bis 200 Kämpfer. Die Tiger-Milizen ziehen eine blutige Spur durch die Aufmarschgebiete des Militärs. Vor dem Krieg sind die Belgrader Schläger nur eine besonders brutale Spielart des internationalen Hooliganismus. Die aufgeheizte nationalistische Stimmung, die Perspektivlosigkeit vieler Hooligans und die Förderung der Milizen durch den serbischen Staat entfalten nun jedoch eine immense Überzeugungskraft.

Als 1997 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag Anklage gegen Arkan und seine Komplizen erhob, listete die Anklageschrift zahllose Verbrechen auf. Unzählige Zeugen berichteten von den Massakern und ethnischen Säuberungen, von Gräueltaten und Kriegsverbrechen. Bevor sich Ražnatovic jedoch in Den Haag verantworten musste, wurde er im Jahr 2000 in der Lobby des Intercontinental Hotels Belgrad mit 38 Schüssen hingerichtet. Von vielen Serben wird er jedoch weiterhin als erfolgreicher General verehrt.

Der Spieltag

Nach diesem beklemmenden Blick in die Vergangenheit nun zurück zu meinen Eindrücken vom Spieltag, den ich bei Prachtwetter zwischen Belgrader Burg, Fußgängerzone und dem Ufer der Save verbrachte. Gäste aus Neapel waren mir in der Stadt dabei nur ein einziges Mal untergekommen: eine Kleingruppe von acht klassischen „Süditalien-Ultras“, wie man sie sich besser nicht vorstellen könnte. Völlig unverhältnismäßig wurden sie den gesamten Tag über begleitet von zwei Mannschaftswagen der Polizei und einzelnen Ordnungshütern auf Patrouille. Nach erfolgreicher Ticketübergabe und netten Gesprächen in einem alternativen Jugendclub machte ich mich zu Fuß auf den Weg hinaus aus dem Stadtzentrum, vorbei am Dom des Heiligen Sava (eines der größten orthodoxen Gotteshäuser der Welt), runter zum Marakana. Dieser einige Kilometer lange Spaziergang ist auch beim wiederholten Male ein absolutes Erlebnis und schwer in Worte zu fassen. Anders als in einigen Ländern Westeuropas findet hier vor dem Spiel kein Karneval peinlich maskierter und kostümierter Partypeople im Vollsuff statt. Rund ums Stadion dann ein wahnwitzige Atmosphäre: ein Gewusel wie selten erlebt, von allen Seiten die heranströmenden Massen, die Vorfreude auf ein geschichtsträchtiges Spiel allen ins Gesicht geschrieben. Dunkelheit, das erleuchtete Marakana, Verkehrschaos, die Ankunft der Neapolitaner, dazu der obligatorische Geruch der Grillstände. Dieser Mix zog auch mich als langjährigen internationalen Stadionbesucher magisch in ihren Bann.

Vor dem Spiel findet hier kein Karneval peinlich maskierter und kostümierter Partypeople im Vollsuff statt.

An den Eingängen herrschte großer Ansturm, auch recht heftige Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften, die teilweise äußerst nervös agierten, waren zu beobachten. Die Einlässe waren inklusive dreimaliger Ticketkontrollen äußerst penibel geregelt, womit mein Versuch, auf die Gegengerade zu gelangen, bereits frühzeitig scheiterte. Mehr als eine Stunde vor dem Ankick platzte das Oval bereits aus allen Nähten. Wie auch immer es den Leuten gelang, aber es waren definitiv mehr Zuseher vor Ort als die angegebenen 50.000. Mir war es dementsprechend fast unmöglich, noch einen adäquaten Platz zu finden. Im Endeffekt stand ich das gesamte Spiel über oberhalb der letzten Sitzreihe, um das Spiel noch halbwegs verfolgen zu können. Durch diese Enge erlebte ich die wahnsinnige Atmosphäre und Lautstärke an diesem Abend noch intensiver. Über neunzig Minuten stand das ganze Stadion inklusive Haupttribüne im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihrer Mannschaft, oftmals stiegen alle Zuseher in die Gesänge der Nordkurve mit ein.

„Welcome to the town of champions!“

Gleich zu Beginn gab es eine spektakuläre Choreographie über das gesamte Stadion, bestehend aus 50.000 Blättern, die auf den Tribünen ein Mosaik aus den Vereinsfarben ergaben. In der Nordkurve wurden vier Spieler dargestellt, die den Champions League Henkelpott aus silberner Glitzerfolie umrahmten. Idee und Umsetzung waren perfekt. Das Bild wurde über alle vier Tribünen ganze zehn Minuten lang gehalten und dazu in ohrenbetäubender Lautstärke die Vereinshymne intoniert. In großen Lettern prangte dazu passend „Welcome to the town of champions!“. Als Krönung drehte die ruhmreiche Mannschaft der Saison 1990/91 eine Stadionrunde mit der damals errungenen Trophäe des Europapokals der Landesmeister. Natürlich wurde sie frenetisch gefeiert. Auf Pyro-Elemente verzichtete man an diesem und auch an allen weiteren Champions League Abenden, um den nicht ohnehin schon stark unter Beobachtung stehenden Verein nicht noch zusätzlich zu schaden.

Einige hundert Gäste aus Neapel konnten sich trotz ihren konstanten Gesängen in dieser immensen Geräuschkulisse nur durch den Einsatz ihrer Transparente und Fahnen bemerkbar machen. Zum Spiel selbst gibt es außer “ödes, torloses Remis“ nichts weiter zu sagen, weshalb die Anfangsemotion nicht über die gesamte Spieldauer zu halten war. Auch wenn es im Endeffekt nicht für mehr als die Gruppenphase reichte, war die Teilnahme am Konzert der Großen im Vorjahr ein Achtungserfolg für Roter Stern, das von den Fans entsprechend honoriert wurde.

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