Das Zeit- und Strafraum Kontinuum
Minute 45 – Engländerei: Der Erfolg der englischen Lümmel

Die Freunde sitzen zusammengekuschelt auf der Coach und vor der Coach. Sie sehen still auf das Spiel im Fernsehen – wortlos, jedoch nicht gedankenlos. Wie in Trance, ausgelöst durch eine fantastische erste Halbzeit, starren sie auf den Bildschirm, gehen aber einem gemeinsamen Gedanken nach. Sie leben in einer Zeit, in der sich ihre Welt um den Ball dreht und der Ball um ihre Welt. Sie sind ein paar Wenige von Vielen, die dem Spektakel frönen, die Stadien auf- und manchmal heimsuchen, die Spiele gemeinsam und alleine im Fernsehen verfolgen, Highlights am Handy streamen, Statistiken und Tabellen in Zeitungen studieren, Fussballzeitschriften abonnieren, Podcasts hören und produzieren, Fanartikel kaufen, Teamfarben mit Stolz und Freude tragen und trotz bereits gebrechlicher Knochen noch selbst gegen den Ball treten. Sie lieben Fussball. Sie leben Fussball. Sie tragen, wie beinah die ganze Welt, den Fussball in den Alltag mit. Der Fussball wird dadurch zum allgemeinen Kulturgut.

Posch, Stegisch, Schwarz, Troissler, Adelmann in Gedanken: „Die Gegenwart ist schön.“

Schwarz: „Könnt ihr euch vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der Fussball kein Massenspektakel war? Eine Randerscheinung? Eine unerwünschte Sportart?“

Stegisch: „Kann und will ich mir nicht vorstellen.“

Adelmann: „Der moderne Fussball ist nicht alt. Das Massenspektakel jung. Die Gladiatorenspiele der Römer waren im Vergleich dazu ein dauerhafter, jahrhundertelanger Erfolg. Da muss der Fussball noch hin.“

Troissler: „Da gab‘s bestimmt römische Ultras, die für die ‚Bears‘ oder ‚Lions‘ schrien.“

Stegisch: „Go Bears!“

Wider den Aquädukten. Kein Garum für meine Küche.

Adelmann: „Ich bin mir sich, dass auch das Merchandising darauf ausgelegt war. Bärenwimpel, Löwenkrallen, kleine Dreizacks, blutige Fischernetze.“

Schwarz: „Ultras-Sprüche hatten damals auch eine effektivere Aussagekraft, find‘ ich: Red or dead oder Run or die.“

Posch: „Kampf den Patriziern, Tod den Etruskern!“

Adelmann: „Glaubt ihr, die waren auch gegen den römischen Kommerz?“

Troissler: „Wider den Aquädukten. Kein Garum für meine Küche.“

Schwarz: „Aber Scherz beiseite. Es gab eine Zeit in jüngster Vergangenheit, in der Fussball alles andere als ein Massenspektakel war. Eine Zeit, in der nicht Woche für Woche tausende Fans ins Stadion strömten. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war Fussball eine Randerscheinung. Kaum vorstellbar eigentlich.“

Stegisch: „Bei uns auch nicht beliebt, hab ich mal gelesen, oder Poschi?“

Posch: „Ganz genau. Aus der Perspektive vieler Zeitgenossen war der Fussball mit einem schweren Makel behaftet.“

Troissler: „Keine Dreizacks für das Merchandising?“

Posch: „Auch, ja. Nein, das Spiel an sich stammte aus England, aus dem Land des perfiden Albion. Jenem Land, dem man in Kontinentaleuropa ob seines imperialen Erfolges weltweit misstraute und das man missachtete. Wurde zu jener Zeit dennoch gekickt, musste man sich den Vorwurf – und das ist wirklich als Schimpfwort zu verstehen – der Engländerei gefallen lassen.“

Adelmann: „Man könnte, finde ich, das Wort Kicken heute gerne mit dem Wort Engländerei ergänzen – ohne Schimpfwortbezug versteht sich. Das hätte doch Charme.“

Stegisch: „Schwierig in der Umsetzung. Hey, gehen wir Engländereiern klingt komisch.“

Schwarz: „Man muss sich das aber vorstellen, deine Kinder spielen auf irgendeinem Rasen mit so etwas ähnlichem wie einem Ball und die Nachbarn beschimpfen es: ‚Ihr englischen Lümmel ihr, geht zurück auf eure Insel‘.“

Stählen am Reck, verrecken im Dreck.

Posch: „Ja, der Sport im deutschsprachigen Raum war Turnen.“

Stegisch: „Der Deutsche stählt seinen Körper am Reck.“

Posch: „Eigentlich genau das. Ein kraftvoller Körper für kommende Aufgaben im Kampf.“

Troissler: „Stählen am Reck, verrecken im Dreck.“

Adelmann: „Aber warum wurde der Fussball dennoch erfolgreich?“

Stegisch: „Weil Engländereiern geil ist.“

Posch: „Ja, und weil die gestählten Reckturner im Dreck des Ersten Weltkrieges tatsächlich verreckten. Der Krieg förderte tatsächlich den Fussball. Hinter der Front entwickelte sich ein umfangreicher Sportbetrieb. Turnerische Übungen wurden hier vor allem durch Fussball ersetzt.“

Adelmann: „Warum Fussball?“

Schwarz: „Ich glaube, das hatte einen psychologischen Grund. Den Frontkämpfer konnte jederzeit der Tod ereilen. Die Folge war eine bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Anspannung von Körper und Nerven. Für den Spannungsabbau der Soldaten musste eine körperliche Freizeitbeschäftigung gefunden werden: Fussball.“

Troissler: „Front oder Fussball. Da weiß ich, was ich wähle.“

Posch: „Und nach dem Krieg setzte sich dann der neue Bewegungssport durch.“

Stegisch: „Die englischen Lümmel haben die Schlacht gewonnen. An der Front und in der Etappe.“

Posch: „Ja, aber die Germanisierung der Engländerei hielt nach dem Ersten Weltkrieg Einzug. Weshalb auch solche Mannschaftsbezeichnungen wie Britannia Dortmund durch den neulateinischen Begriff für Preußen, nämlich Borussia, ersetzt wurden. Und mit der Germanisierung tauchte bereits die Fußlümelei auf, die wir schon einmal besprochen haben.“

Adelmann: „Früher oder später landet der Herr Historiker immer bei den Nazis.“

Stegisch: „Jetzt kannst dann mal aufhören die Vergangenheit zu bewältigen.“

Posch: „Niemals!“

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