Kurvenblick
Zürich- (k)eine Fussballstadt?
China, Derby & der lange Kampf um ein Fussballstadion

In den letzten zwei Jahren brannte es beim Grasshopper Club Zürich (GCZ) lichterloh und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Nun der Paukenschlag: Der einst stolze Grasshopper Club wurde nach China verkauft. Nach 17 Jahren erfolgloser Suche hat die Grasshopper Fussball AG also neue Geldgeber gefunden. Die Champion Union HK Holdings Limited aus Hongkong übernimmt die Aktienmehrheit. Und wechselt gleich einmal das Management aus. Besitzerin wird Jenny Wang, die Ehefrau von Guo Guangchang, dessen Firma Fosun die Wolverhampton Wanderers besitzt.

Die Zeiten, als der GC aus gesellschaftspolitischen Gründen und Gönnerhaftigkeit aus der Zürcher Wirtschaft unterstützt wurde, sind vorbei. Dieser Kulturwandel wird zu einer riesigen Herausforderung werden, geraten doch die Grasshoppers mit diesem Schritt als kleines Rädchen in die gewaltige Maschinerie und den Einflussbereich eines chinesischen Großkonzerns. GC ist Teil eines weltweiten Konstrukts geworden, das mit dem Kauf und Verkauf von Spielern Gewinn machen will. Und das dafür einen Weg sucht, um die strenger gewordenen Regeln der FIFA zu umgehen.

Für die chronisch von Geldsorgen geplagten Grasshoppers bedeutet das zuerst einmal, dass sie nach jahrelanger, erfolgloser Suche endlich Besitzer mit einer erheblichen Finanzkraft gefunden haben. Man zahlt aber einen hohen Preis dafür. Der Club setzt seine Identität und seine Tradition quasi als Pfand ein. Obwohl die Investitionssumme für die nächsten Jahre noch nicht bekannt ist, ist die Frage weniger, ob die Chinesen pünktlich zahlen werden, sondern vielmehr, wie sie das tun. Bisher haben sie kaum Hinweise darauf gegeben, was sie mit dem Club vorhaben, welche Strategie sie genau verfolgen und welchen Stellenwert sie GC im Portfolio einräumen werden. Sie haben es auch auffällig vermieden, sich zum offensichtlichen Nahverhältnis zur Fosun-Gruppe zu bekennen. Das liegt daran, dass auch der englische Fussballklub Wolverhampton Wanderers dem Fosun-Konzern gehört, die UEFA es aber verbietet, dass dem gleichen Besitzer mehrere Vereine unterstehen. Bisher ist lediglich bekannt, dass die neuen Eigentümer gern im Wirtschaftsraum Zürich Fuß fassen und sich die nächsten zehn Jahre lang bei GC engagieren möchten. Im schnelllebigen Fussballbusiness ist das eine unfassbar lange Zeit. Und die Ziele sind so groß wie immer bei GC: zurück an die Spitze in der Schweiz.

Was war geschehen?
Ein Blick zurück in den Frühling 2019:

Nach dem sportlich wiederholt erbärmlichen Auftritt auswärts in Sion riss bei einigen Leuten im Auswärtssektor endgültig der Geduldsfaden. Nach mehreren Spielunterbrechungen wurde die Partie schließlich beim Stand von 0:2 aus Sicht der Gäste abgebrochen.

Beim Auswärtsspiel in Luzern kletterten beim Stand von 4:0 fürs Heimteam einige GC-Anhänger über die Zäune Richtung Spielfeld. Game over. Die Zeit im Schweizer Spitzenfussball war damit für den Grasshopper Club nach siebzig Jahren abgelaufen. Und das noch bevor der Schiedsrichter die Partie überhaupt regulär beenden konnte. GC gelang in dieser schicksalsschweren Abstiegssaison nicht einmal ein erträglicher Abschied. Eine Vereinsführung war nicht mehr zu erkennen, die Fans übernahmen die Macht. Seine Würde hatte der Verein aber schon viel länger davor verloren.

Was folgte war vorhersehbar: ein medialer Aufschrei und eine Hetzjagd gegenüber der Kurve. Die eigentlichen Probleme und der tiefe Riss innerhalb des Vereins waren damit schnell vergessen. Und das obwohl der Geschäftsführer und der Präsident seit Monaten in der Kritik gestanden waren, das Geld hinten und vorne nicht reichte, Trainer Thorsten Fink freigestellt und durch einen Nobody ersetzt wurde, peinliche Pressetermine am laufenden Band stattfanden, Treffen mit Fans nicht eingehalten wurden und der freie Fall in die die sportliche Bedeutungslosigkeit voll im Gange war.

Irgendetwas war anders als sonst…

Nichtsdestotrotz ein kurzer Flashback zum 274. und vorläufig letzten Zürcher Derby im April 2019:
Eigentlich war alles wie immer. Wie immer gab es eine schöne Choreo zu sehen, wie immer brannte es in der Südkurve mehrmals lichterloh, wie immer waren die Ränge nicht mal zur Hälfte gefüllt, wie immer gab es Scharmützel zwischen den Fangruppen. Aber irgendwas war doch anders als sonst. Zum ersten Mal seit Jahren war auch im Sektor der Grasshoppers optische Aktivität mit Hilfe von Fahnen, Doppelhaltern und Pyroeinsatz auszumachen. Sie verwandelten damit die Nordtribüne in ein grell leuchtendes und laut knallendes Feuerwerk, das den Stadionsprecher zu Dutzenden Warnungen nötigte. Bis dahin beschränkte sich deren Unterstützung im Exil Letzigrund immer auf akustischen Support. Die Fanszene von GC befindet sich seit der Übersiedlung in den Letzigrund in einer Art konstantem Trotzmodus. Mit Feuerwerk und Fahnen hielten sie sich fast ganz zurück. „Trotz Exil bi jedem Spiel“ stand zwar bockig auf der Zaunfahne vor der Fankurve, doch einige überzeugte Fans blieben dem Letzigrund vom Moment des Umzugs an gänzlich fern. Ähnlich klang es auch schon bei den FCZ-Fans. Für die Saison 06/07 (und für die ersten Spiele der Saison 07/08) mussten sie wegen dem Neubau des Letzigrunds temporär in den Hardturm umziehen. Bei Heimspielen fieberten sie in der eigentlich den GC-Fans angestammten Kurve mit. „Letzi läbt ewig“ stand auf der Zaunfahne zu lesen. Und auf einem Transparent beim ersten Heimspiel im Hardturm hieß es „Mit dä Stimm im Hardturm, mit em Herz im Letzi“.

Zürich – (k)eine Fussballstadt?

Dies ist die Geschichte einer Stadt, die seit Jahren versucht, ein Fussballstadion zu bauen. Nicht irgendeine Stadt, sondern Zürich. Die größte Stadt im Land, das Wirtschaftszentrum der Schweiz. Sitz der FIFA. Man braucht von Fussball rein gar nichts zu verstehen, es genügt, wenn die eigene Sportlichkeit darin besteht, selbst einmal in der Jugend gegen einen Ball getreten zu haben, um zu kapieren, dass der Fussball in Zürich keine Lobby hat. Salopp formuliert: In Zürich grassiert die Modekrankheit Fussballintoleranz. Man kann offenbar nicht nur gegen Laktose oder Gluten eine Allergie entwickeln. In Zürich zeigt sich am Fall des Stadions, dass man auch auf den guten alten Fussball mit Ausschlag und schlechten Träumen reagieren kann.

In Zürich grassiert die Modekrankheit Fussballintoleranz.

Im Sommer 2008 hätte sich diese Stadt bei der Fussball-EM mit dem neuen Hardturm im besten Licht präsentieren können. Stattdessen liegt das Hardturm-Areal noch immer brach. Zwei verwaiste Schalensitze zeugen noch davon, dass hier vor Jahren Fussball gespielt wurde. Mit Graffiti übersäte Betonstufen lassen die einstigen Tribünen erahnen. Auf dem früheren Spielfeld sammelt sich in großen Pfützen das Regenwasser. Wo früher ein fein getrimmter Rasen wuchs, wuchert nun das Unkraut. Dreizehn Jahre ist es her, dass der Hardturm ein letztes Mal erbebte, am 1. September 2007 im NLA-Spiel zwischen den Grasshoppers und Xamax. Raul Bobadilla erzielte damals in der 91. Minute das letzte Tor in der Geschichte des alten Hardturms, GC verlor das Spiel 1:2. An diesem Tag ging im Westen der Stadt eine Ära zu Ende. Eine Ära, die geprägt war von WM-Spielen, 22 Meistertiteln der Grasshoppers und denkwürdigen Siegen auf europäischer Ebene.

Auf der Brache gilt: Do it yourself, alles ist möglich.

2008 wurde der Hardturm abgerissen. Wegen Verzögerungen beim Bau des neuen Stadions drohte der europäische Fussballverband UEFA der Schweiz inzwischen sogar mit dem Entzug der EM. In der Bewerbung war schließlich von vier Stadien die Rede gewesen. Mit dem Wegfall des Hardturms standen aber plötzlich nur noch drei Spielstätten zur Verfügung. Um die EM zu retten, beschloss die Stadt deshalb bereits 2006, den Neubau des Letzigrunds voranzutreiben. Ein Stadion entstand auf dem Hardturm-Areal keines. Während der Verzögerung gründeten Anwohner den Verein Stadionbrache. Das Wort Brache stammt aus der Landwirtschaft und meint einen unbestellten Acker, eine unproduktive Fläche. Wer in der heutigen Wohlstandsgesellschaft von Brache spricht, tut dies oft mit einem romantisierenden Unterton. Leerstehende, ihrem ursprünglichen Zweck entzogene Flächen versprechen gerade im urbanen Raum ein letztes Stück Freiheit und Anarchie im durchorganisierten Stadtbild. Auf der Brache gilt: Do it yourself, alles ist möglich.

Der Verein schuf sich ab 2011 eine Oase in der Stadt. Kleine Gärten, eine Skateranlage, ein Boulderwürfel und ein Unterstand mit zwei Lehmöfen sind über die Jahre entstanden. „Für uns Anwohner ist die Brache ein erweitertes Wohnzimmer“, sagt Stefan Minder, Vorstandsmitglied im Verein Stadionbrache. Längst haben Schulklassen, Kindertagesstätten und Vereine die Brache für sich entdeckt. Gar nicht in diese heile, entkommerzialisierte Welt wollen die Pläne der Stadt und privater Investoren passen, auf dem Areal ein Fussballstadion für 18.000 Zuschauer, eine Genossenschaftssiedlung mit 175 Wohnungen und zwei Hochhäuser mit 600 Wohnungen zu errichten. Die GC-Fans treffen sich noch heute vor jedem Derby auf dem Hardturm-Areal, trinken Bier und stimmen Fangesänge an. Wenn sie sich warmgesungen haben, ziehen sie zum Stadion – in den ungeliebten Letzigrund. Dorthin, wo das Publikum wegen der Leichtathletikbahn viel zu weit vom Spielfeld entfernt sitzt. Dorthin, wo der Erzrivale FC Zürich daheim ist. Dorthin, wo nie richtige Stimmung aufkommt.

Benötigt Zürich ein reines Fussballstadion?

Ja! Ich kenne den Letzigrund. Nein, es macht keine Freude, dort Fussball zu schauen. Es zieht. Man ist viel zu weit weg vom Geschehen. Jeder, der dieses seelenlose Leichtathletikstadion schon einmal besucht hat, wird mir zustimmen, dass in dieser sterilen, kalten und windigen Rostschüssel dank der Laufbahn und flachen Ränge kaum Stimmung aufkommen kann. Somit ist es kaum verwunderlich, dass der Letzi nicht gerade als Zuschauermagnet gilt, wie die durchschnittlichen Besucherzahlen klar verdeutlichen. Sind beim FCZ im Schnitt immerhin 10.000 Besucher zugegen, wird vor allem von GC Fans das Exil im „Feindesland“ in der 2. Liga von gerade mal knapp über 3.000 Leuten bevölkert, was bei einem Stadion mit 26.600 Sitzplätzen absolute Trostlosigkeit bedeutet. Und auch dieser Schnitt ist wie überall geschönt, zählen doch alle Saisonkarten und verschenkte Karten für Sponsoren, Ehrenmitglieder oder Veranstaltungen ebenso dazu. Bei einer Stadt mit einer Einwohnerzahl von knapp über 400.000 schon ernüchternd. Die Gründe dafür sind neben der Stadion-Misere vielfältig. Einerseits die sportlichen Leistungen, andererseits ist in der multikulturellen Stadt Zürich ca. jeder dritte Einwohner ein Ausländer oder Zugezogener aus der restlichen Schweiz. Bezugspunkte zum stadteigenen Verein fehlen da natürlich oft. Daneben gibt es noch zwei sehr beliebte Eishockeyvereine mit einem teilweise höheren Zuschauerschnitt und natürlich die vielen nicht sportlichen Alternativen. Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich beispielsweise in Basel, wo der FCB in einem größeren Einzugsgebiet nahezu konkurrenzlos ist und sich die Stadt viel deutlicher zu ihrem Verein bekennt. Die Folge ist ein Zuschauerschnitt, der in den letzten Jahren knapp an der 30.000er Marke knabberte.

Punktesieg für die Kurve, um der seelenlosen Schüssel etwas Leben einzuhauchen.

Die Südkurve des FCZ nimmt immer wieder kreativen Einfluss auf die Gestaltung ihres Letzis. 2010 zogen sie ein Transparent hoch, so groß, dass die ganze Südkurve eingehüllt war. Darunter ging die Arbeit los. Und das Resultat war unübersehbar, als das Transparent wieder eingerollt war: In den Sitzplatzreihen der Kurve der FCZ-Sympathisanten klaffte eine große Lücke. Wo sonst die Farbe Orange leuchtet, prägte Betongrau das Bild. 1.800 Stühle wurden abmontiert, um für eine Stehplatzkurve in Aktion zu treten. Zwar wurden die Stühle für das nächste Spiel wieder aufgebaut, jedoch wurden diese zur kommenden Saison dauerhaft entfernt. Klarer Punktesieg für die Kurve, um der seelenlosen Schüssel etwas Leben einzuhauchen.

Bei der Stadionfrage steht für die beiden Vereine auch aus wirtschaftlicher Sicht viel auf dem Spiel.
FCZ Präsident und Gönner Canepa meinte dazu in einem Interview: „Auch wenn wir nicht gewinnorientiert denken und handeln, ist der FC Zürich doch ein mittelständisches Unternehmen. Gegen 200 Personen stehen auf der Lohnliste, nur ein Teil davon arbeitet im Profibetrieb. In der Mehrheit sind es Junioren-Trainer, Nachwuchsbetreuer, medizinische Fachpersonen, Angestellte in der Administration und im Fanshop. Wir betreiben viel mehr als nur Profifussball. Über 600 Juniorinnen und Junioren trainieren und spielen unter dem Dach des FCZ. Um diesen Betrieb nachhaltig zu führen, brauchen wir Einnahmen. Sonst können wir keine Löhne zahlen, keine Investitionen tätigen und müssen den Betrieb über kurz oder lang einstellen“. Im Letzigrund sind beide Vereine nur Mieter. Ein Großteil der Stadionerträge geht an die Stadt als Stadionbetreiberin. Deshalb startet der FCZ jede Saison mit einem Verlust von fünf bis sieben Millionen Franken. „Nein, dieses Defizit entsteht nicht, weil wir überhöhte Saläre zahlen. Sondern weil Spielbetrieb, Stadionmiete, Personal und Sicherheitskosten über 20 Millionen Franken ausmachen“, so Canepa weiter.

Ein Stadtspaziergang

Tritt man vom Zürcher Hauptbahnhof ins Freie ist von Fussball gar nichts zu spüren. Im Allgemeinen strahlt Zürich wenig Fussballbegeisterung aus. Adrette Fußwege, spiegelnde Schaufenster der Luxuslabels und Flaneure am wunderschönen Seebecken oder an der Limmat bestimmen die Szenerie. Spuren der heimischen Ultraszene sind nur vereinzelt zu sehen. Außer im Stadionumfeld sind selbst bei Derbies kaum Vereinstextilien oder ähnliches auszumachen. Und im Stadtbild ist ausser Tags, Aufklebern und einzelnen Graffitis (fast ausschließlich vom FCZ-Lager) auch nichts zu sehen. Weiter geht es aus der Innenstadt Richtung Stadion. Im Kreis 4 (Stadtbezirk) zeigt sich Zürich von einer ganz anderen Seite abseits der glitzernden Innenstadt. „Heruntergekommen“ ist zwar definitiv der falsche Ausdruck, wenn man von Zürich spricht, jedoch erinnert dieser Stadtteil mit Callshops, ausländischen Supermärkten, Secondhand-Läden und Erotikschuppen eher an deutsche Bahnhofsgegenden. Vormals als Rotlichtbezirk eine „No-Go-Area“, hat sich dieses Viertel mitsamt seiner Underground-Clubs mittlerweile als eines der Zentren des Zürcher Nachtlebens entwickelt. Es lockt mit internationaler Küche, einem vielseitigen Nachtleben und großstädtischem Charme. In Touristenforen wird vom Quartier teilweise aber immer noch gewarnt. Ein User auf Tripadvisor schreibt: „Befolgt meinen Rat: Wenn ihr in Zürich übernachten müsst, steigt auf keinen Fall irgendwo in der Nähe der Langstraße ab.“ Seine Notiz betitelt er mit „Großartige Lage, wenn man denn Prostituierte mag“. Er ist mit seinem vernichtenden Urteil über Zürichs Trendmeile nicht allein. Weitere Einträge lauten da: “schlimmster Stadtteil“, „Cracksüchtige auf den Straßen“ oder „nachts sehr gefährlich“. Und genau von diesem Image lebt das Langstraßen-Quartier natürlich auch. Ich kann einen Besuch jedenfalls mit gutem Gewissen empfehlen.

Großartige Lage, wenn man denn Prostituierte mag.

Der Kreis 4 ist auch die Heimat einer gleichnamigen früheren Sektion der Boys FCZ, welche 2006 zu zweifelhaften Ruhm gelangte. Kurz vor der Präsidentenwahl experimentierte damals der FCZ mit einem Stadionverbot für den gesamten K4. Erhöhte Gewaltbereitschaft wurde als Grund dafür genannt. Diese Kollektivstrafe sorgte für Empörung quer durch alle Fangruppen der Kurve. Nach gewaltsamen Vorfällen kippte die Stimmung aber vollends und der K4 wurde aus der Kurve verbannt. 2008, nach den Fackelwürfen von Basel, sagten K4-Mitglieder, sie würden von den anderen Fangruppen als Sündenböcke missbraucht, auch diese seien nicht frei von Schuld. Was folgte, war eine Klärung per Faustrecht. Der K4 wurde in einer Straßenschlacht vor dem Stadion von einer kampferprobten Delegation der Boys geschlagen. Diese machen den größten Teil der Südkurve aus. Im Verlauf der letzten Jahre kam es aber nach und nach wieder zu einer Annäherung zwischen den Verstoßenen und ihren Nachfolgern in der Kurve.

Folgt man der Badenerstrasse weiter Richtung Letzigrund, sticht einem unweigerlich das Lochergut in die Augen. Das Lochergut in Zürich ist eine in den Sechzigerjahren gebaute Hochhaussiedlung und bis heute ein sozialer Brennpunkt, aus dem heraus sich die Lochergut Jungs bildeten. Sie gelten also inoffizielle Nachfolger von K4. Der Rapper Hero hat mit „3.Halbziit“ 2018 einen Song veröffentlicht, der der sogenannten dritten Halbzeit, also den Auseinandersetzungen der Hooligans gewidmet ist. Hero ist Mitgründer und bis heute Mitglied der Lochergut Jungs.

Derby Impressionen vom 6.4.2019

Nächste Station ist die Fritschiwiese: Treffpunkt der Südkurve vor jedem Derby, um danach gemeinsam im Corteo den Weg zum Stadion anzutreten. Hunderte sind dem Aufruf gefolgt und haben sich in der Parkanlage eingefunden. Man trifft sich auf ein paar Biere, süßlicher Duft liegt in der Luft, Böller krachen und die ersten Bengalen erstrahlen. Langsam kommt doch Fussballatmosphäre auf. Als die Musik aus der mitgebrachten Soundanlage verstummt, macht sich der Pulk auf zum Stadion. Auf der anderen Seite der Gleise haben sich die Fans der Grasshoppers versammelt. Die Stimmung ist auch hier gesellig, Biertrinken die Hauptbeschäftigung. Vom Hardturm starten sie zum Marsch in den Letzigrund.

Am Stadion angekommen ist vermehrt das Blau/Weiß beider Vereine zu erkennen, trotzdem überwiegt auch hier ein sehr angenehmes Klientel. Kaum ein Anhänger hat sich peinlich ausstaffiert, um seiner Verbundenheit Ausdruck zu verleihen. Von Norden und Süden nähern sich die rivalisierenden Fanlager dem Stadion. Nur die Straßensperren und Wasserwerfer in den Seitenstraßen verhindern ein direktes Aufeinandertreffen der Erzrivalen. Die Polizei hält sich zwar im Hintergrund, tritt in voller Montur jedoch martialisch auf. Das Match gilt als Hochrisikospiel, trotzdem durchmischen sich die Fanlager und meist wird gemütlich bei einem Bier über den Zürcher Fussball diskutiert.

Dieser Anspruch, die Nummer eins von Zürich zu sein, ist bei GC ins Abseits geraten.

Anpfiff zum Derby, das Spiel beginnt verhalten. Auf den Rängen wird aber bereits in der ersten Minute ein Feuerwerk gezündet. Die Südkurve enthüllt einen riesigen FCZ-Schriftzug, Anhänger zünden Pyros. Auf den Sitzplätzen im ganzen Stadion werden daraufhin Smartphones gezückt, um das Spektakel aus Schall und Rauch festzuhalten. Die FCZ-Anhänger sind in Überzahl – nicht nur an diesem Samstagabend im Stadion. In den letzten Jahren hat sich das Kräfteverhältnis quantitativ deutlich pro FCZ verschoben. Der Stadtrivale Grasshoppers, nach dem FC St. Gallen der zweitälteste Verein der Schweiz, stellte als Verein der Wohlhabenden und Akademiker lange Zeit die Nummer eins der Stadt dar. GC ist Rekordmeister (27 Titel) und neunzehnfacher Cupsieger. Dieser Anspruch, die Nummer eins von Zürich zu sein, ist bei GC mangels größerer Erfolge und angesichts des Hypes um den angeblich einzigen „Stadtclub“ (dass der FCZ in den Medien derart tituliert wird, ist bezeichnend), ins Abseits geraten. Obwohl das Image des gepflegt arroganten Bonzen-Clubs im politisch korrekten Zürich viel subversives Potenzial hätte, setzt die Clubleitung lieber auf austauschbare, sympathische Volkstümlichkeit. Wie in vielen anderen Städten sind jedoch im Alltag die Unterschiede zwischen dem vermeintlichen Arbeiterverein auf der einen und dem bürgerlichen Verein auf der anderen Seite mittlerweile nur mehr marginal.

Während in der FCZ Südkurve „Züri isch ois, isch ois ganz allei“ intoniert wird, werfen ihnen die GC Anhänger vor, die Südkurve über den Verein und die Stadt zu stellen. Die Südkurve bestimmt die Außenwirkung der FCZ-Fans. Wer von den Anhängern des FCZ spricht, spricht von der Südkurve. Die Kurve lebt. Sie bringt sich durch Stimmung, perfekte Choreografien, Pyrotechnik, aber auch immer wieder mal durch Auseinandersetzungen ins Gespräch. Sie organisiert, vermittelt, fordert und erarbeitete sich ein enormes Standing im Stadion, im Verein und der Stadt.

Doch die Südkurve gibt es nicht. Sie ist vielmehr ein Überbegriff für eine Vielzahl verschiedener Gruppierungen. Südkurve heißt die Fangemeinde erst seit 1995, davor wurde die Fanecke schlicht Züri-Egge genannt. Die Kurve fasst an die 4.000 Personen, die sich in zahlreichen Gruppen organisieren. Sie tragen Namen wie Boys, Outcast Society, Locoz, Blauer Block, RD oder Paradox. Zwar gibt es ein regelmäßiges Gremium mit Vertretern der verschiedenen Gruppen, einen Südkurven-Sprecher gibt es allerdings nicht und offizielle Stellungnahmen auf der Homepage der Südkurve sind höchst selten. Ein paar wenige Fotos von den Spielen und Ankündigungen für kommende Auswärtsfahrten, ansonsten hält sich die Kurve recht bedeckt.
Aufgrund dessen verwundert es wenig, dass bei Verfehlungen einzelner Mitglieder rasch die gesamte Kurve in Kritik gerät und vor allem vom Boulevard pauschal verurteilt wird. In näherer Vergangenheit beispielsweise beim Abstieg 2016, als die Stadionkatakomben von einigen Personen gestürmt wurden. Oder beim Cupsieg im selben Jahr. Die FCZ-Spieler Nef und Yapi schlichen zu ihrer Kurve, boten dort den Silberpokal dar und trollten sich wie geschlagene Hunde. Die Südkurve nahm das Geschenk ohne große Regung zur Kenntnis. Wer übermäßig jubelte, erntete böse Blicke. Diese Beispiele sagen viel aus über das Selbstverständnis der Südkurve – und über die Macht, die sie inzwischen auf Spieler und Clubführung ausüben. Der bizarre Cup-Final war dabei nur der Höhepunkt einer langen Serie von einschlägigen Demonstrationen.

Die Kurve lebt.

Durch die massiven polizeilichen Maßnahmen hat sich die Lage rund um das Stadion weitgehend beruhigt. Die Kehrseite ist, dass sich Auseinandersetzungen inzwischen auf andere Teile der Stadt verlagert haben. Marco Cortesi, Sprecher der Stadtpolizei Zürich, erklärt das jüngste Aufflammen der Gewalt auch mit der Rückkehr des FC Zürich in die Super League: „Seither stellen wir eine deutliche Zunahme von Attacken fest“. Oftmals finden diese nicht mehr nur am Tag des Spiels vor dem Stadion statt, sondern zu unterschiedlichen Zeiten, über das ganze Stadtgebiet verteilt, heißt es bei der Stadtpolizei Zürich. “Für die Einsatzkräfte wird es so fast unmöglich, rechtzeitig vor Ort zu sein“, so Cortesi weiter.

Fernab jeglicher Polizeipräsenz nimmt die Intensität zu, was die Neue Zürcher Tageszeitung dazu veranlasste, eine „Chronologie der Gewalt“ zu veröffentlichen. Auffällig dabei ist, dass in den vergangenen zwei Jahren immer wieder Personen aus dem GC-Lager unter die Räder kamen. Ihnen wurde aufgelauert, sie wurden überfallen und verprügelt. GC-Anhänger klagen jedenfalls seit einigen Monaten über eine massive Verschiebung der Kräfteverhältnisse, auch öffentlich. Im November des letzten Jahres erschien auf einer Fan-Website von GC unter dem Titel „Jeder Rivalität sind Grenzen gesetzt“ ein Artikel, in dem die Gewalt des FCZ-Lagers angeprangert wird. „Wer zulässt, dass das GC-Fanlokal wiederholt angegriffen wird, achselzuckend hinnimmt, dass GC-Fans systematisch ausgeraubt werden, Andersdenkende mit Waffen bedroht und selbst Kinder instrumentalisiert, demaskiert die angeblich selbst regulierte Fankurve als Farce“, heißt es darin. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. In einer Turnhalle wurden kurz darauf zehn GC-Ultras bei einer Attacke verletzt.

„Mich erinnert die Südkurve stark an die Jugendbewegung der Achtzigerjahre […] in ihrer ganzen Kreativität und Leidenschaftlichkeit, in ihrer Ablehnung von Kommerz, Establishment und Polizei und ihrer Neigung zur Gewalt“, schreibt etwa Michael Lütscher, Autor des Buches „FCZ – Eine Stadt, ein Verein, eine Geschichte“. Andere schreiben der Südkurve den Verdienst zu, sie habe den Fussballfan an sich vom traurigen Ruf des dumpf-spießigen Reaktionärs befreit. Wer will es da gewissen Fans verübeln, dass sie sich für enorm wichtig halten? Obwohl sich Medien und Politiker regelmäßig über Petarden- und Steinewerfer empören, gehört es in der Stadt immer noch zum guten Ton, den FC Zürich und die Südkurve gut zu finden.

Zukunftsaussichten

Der Abstimmungs-Sonntag brachte ein knappes Plus an Ja-Stimmen. Knapp 54 Prozent der Stadtbevölkerung stimmten für den Bau eines neuen Stadions. Mit diesem Ergebnis hat sich an der Gefühlslage bei GC etwas Grundlegendes geändert. Auf der Zaunfahne vor der Fankurve GCs war zum ersten Mal seit der Übersiedlung ein neuer Spruch zu lesen: „Ändlich zrugg id Heimat – Hardturm“. Der Stadionsprecher übernahm den emotionsgeladenen Ton: „Zürich sagt Jaaaaaaa! Der Grasshopper-Club kann endlich wieder zurück in die Heimat!“ Und die Spieler bedankten sich beim Einlauf ins Stadion mit einem Banner beim Zürcher Stimmvolk. Ein Riesenschritt ist getan, aber in der Realität ist der tatsächliche Baubeginn bzw. die Fertigstellung zeitlich völlig offen. 2022 oder doch eher 2026? Alles ist möglich. Dank direkter Demokratie stehen Gegner des Baus schon in den Startlöchern, um das Projekt zu verhindern bzw. um Jahre zu verzögern.

Der Kampf um die Vormachtstellung in Zürich geht zumindest unter den Fangruppierungen derweil munter weiter. Exil-Rhetorik wird es im neuen Stadion keine geben. In der Nacht nach der Abstimmung setzten die FCZler den nächsten Nadelstich, indem sie an der Hardturmbrache ein riesiges FCZ-Logo mit dem Spruch „Ganz Züri isch ois!“ sprayten. Sie machen damit klar, dass sie den Hardturm nich GC-Fans alleine überlassen wollen.

Somit schließt sich der Kreis zu den eingangs beschriebenen Szenen. In kleinen Gruppen verlassen die Zuschauer den Letzi in die dunkle Nacht. Noch im Zug am Nachhauseweg treffen auf diversen Onlineportalen schon die ersten Meldungen über Scharmützel an den neuralgischen Punkten im Langstrassen-Quartier ein.

Der Grasshopper-Club hat die alte Schweiz verlassen, er kann nicht mehr zurück. Es zeigt sich nun die logische Konsequenz jahrelanger Misswirtschaft, mit noch völlig unabsehbaren Folgen für die Zukunft des einstmaligen Aushängeschildes des Schweizer Fussballs. GC hat nun zwar eine Überlebensperspektive, steht aber vor einer Zukunft, die vor allem eines ist: unbekannt. Ein Zürcher Derby wie jedes andere, oder doch ein ganz besonderes?

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