Während die meisten Fussballfans und solche, die zu Beginn eines jeden Großereignisses plötzlich dazu mutieren, im heurigen Juni völlig dem WM-Fieber erlegen waren, beschäftigte mich zu dieser Zeit bereits ein anderes Thema. Die Europapokal-Auslosung stand vor der Tür und damit einige Fragen: Wer ist dabei? Wer ist ein möglicher Gegner? Und wie komme ich dorthin? Leider war die Spannung recht schnell dahin, als bekannt wurde, dass für meinen Herzensverein Sturm Graz nur der FC Basel oder Ajax Amsterdam als mögliche Gegner in der zweiten Quali-Runde in Frage kommen würden. Den Modus der Ziehungen durchblicke ich ja schon längst nicht mehr, lässt sich der Alt-Herren Club in Nyon ja alljährlich ein neues Prozedere einfallen.
Dienstag 16.6.18, 14:00: Es wurde ernst für „Sturm Graz international“. Bei der Nachricht über das Ajax-Los stellte sich subjektiv betrachtet Erleichterung ein. Für mich als „Zürcher“ wäre Basel nur mäßig einladend gewesen, besuchte ich das Joggeli doch schon dutzendmal. Die Amsterdam Arena durfte ich zwar bei einem Heimspiel von Ajax ebenfalls schon beehren, das liegt aber mittlerweile knapp acht Jahre zurück. Und so wurden sofort nach Bekanntgabe die einschlägigen Buchungsseiten im Netz malträtiert, um kurzfristig und im Sommer noch zu einem vernünftigen Betrag (in Graz stiegen die Preise ja minütlich auf über 500 Euro) nach Amsterdam durchzustarten. Aufgrund beruflicher Verpflichtungen blieb mir dieses Mal nur das Flugzeug als Mittel zur Anreise.
Irgendwann sieht man das ganze Theater nur noch mit Galgenhumor.
Es kommt mir wie gestern vor, dass Ajax das Nonplusultra auf der großen europäischen Fussballbühne war und legendäre Spieler wie Bergkamp, die De Boer Brüder, Davids, Litmanen und viele andere für den Club aus Amsterdam aufliefen. Von einem gewissen Jari Litmanen hängen bei mir sogar noch drei Trikots zuhause im Schrank, natürlich „original“ vom Stand’l in Jesolo und Lignano.
Der Glanz alter Tage ist zwar etwas verblasst, Anziehungskraft versprüht der Mythos Ajax aber nach wie vor. Die ersten 1.500 Tickets der insgesamt 2.000 verfügbaren Auswärtskarten gingen in Graz innerhalb nur weniger Tage über den Ladentisch. Und auch wenn während der Transferperiode eine Hiobsbotschaft nach der anderen über den neuerlichen Abgang eines Leistungsträgers eintraf, tat das der Vorfreude keinen Abbruch. Irgendwann sieht man das ganze Theater nur noch mit Galgenhumor. Aber: „Sturm ist wichtiger als jeder Spieler!“ Danke, Ivica Osim.
Away Days
Aufgrund der Tatsache, dass ich mich von Zürich aus alleine auf die Reise machen musste, kam in den Tagen vor dem Abflug nur wenig Europapokal-Feeling auf. Aber spätestens am Gate war auch ich im „Sturm Graz international“-Modus, als sich direkt hinter mir eine Familie in Sturm-Shirts einreihte. Die Anreise war für eine Auslandsfahrt sehr unspektakulär, wenn ich da etwa an frühere Trips nach Soligorsk, Budapest oder Charkiw zurückdenke.
In Amsterdam angelangt, sah ich beim Schlendern durch die Gassen schon am Vormittag viele bekannte Gesichter aus der Grazer Szene – zusammen mit schrägen einheimischen Vögeln und den Touristenmassen ein interessanter Mix. Was soll ich über Amsterdam noch groß schreiben? Es war ja so gut wie jeder schon mal dort. Und wer schon einmal das Privileg hatte, mit seinem Verein auf Europapokal-Tour unterwegs zu sein, kann sich ungefähr ausmalen, wie so ein Aufenthalt in dieser Stadt abläuft. Die Zeit vor dem Spiel wurde großteils in dem von zahlreichen Kanälen und Brücken durchzogenen Kneipen- und Rotlichtviertel verbracht, um dort die Trinkfestigkeit auszuloten. Die Einwohner von Amsterdam und des gesamten Landes haben zu Hause in der Regel keine Gardinen oder stets geöffnete Vorhänge, auch wenn sie sehr private Dinge tun. Ob das der Grund ist, warum in diesem Bereich der Stadt die Damen im offenen Schaufenster anzüglich um Kundschaft werben? Die drei Kreuze (XXX), die man überall in der Hauptstadt sieht, stehen jedenfalls für nichts Anzügliches, sondern sind drei Andreaskreuze. Sie entstammen dem Stadtwappen und sind somit ein Amsterdamer Markenzeichen.
Es war grenzwertig.
Auch wenn die organisierten Reiseangebote von Sturm nicht der Hammer waren, fand sich schlussendlich der Großteil der rund 1.800 Grazer Fans – viele waren schon mehrere Tage vor Ort und dementsprechend gezeichnet – an einem zentralen Platz Amsterdams ein, der als offizieller Treffpunkt aller Reisenden (inklusive größerer Abordnungen befreundeter Gruppen aus Bremen und Karlsruhe) ausgerufen wurde. Die umliegenden Restaurants und Bars waren von der Grazer Anhängerschaft voll belegt. Schon zur Mittagszeit wurde das Polizeiaufgebot im Minutentakt erhöht, da sich die Grazer Truppe aber vorbildlich verhielt, blieb es bei einigen kleineren Diskussionen über das Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. Die Einsatzkräfte agierten in Summe recht zurückhaltend und deeskalierend – kennt man ja vor allem im Europacup auch anders.
Am späten Nachmittag ging es schließlich im Corteo Richtung Bahnhof: Polizei auf Pferden und mit Mannschaftswagen vorneweg, dahinter ein fast zur Gänze in schwarz gekleideter Block. Mit einzelnen Pyroelementen und Trommelbegleitung hallten die Gesänge durch die Innenstadt. Nachdem der Abmarsch zeitlich etwas zu früh angesetzt war, wurde auf halber Strecke am Hauptplatz nochmals eine längere Pause eingelegt, in der sich auch Präsident Jauk blicken ließ. Eine der Szenegrößen schwor die schwarz-weiße Gemeinschaft in einer knapp zehnminütigen Ansprache leidenschaftlich auf den Abend ein. Die Parole „Natürlich singen wir die Holländer aus dem Stadion, aber in der Stadt benehmen wir uns wie zivilisierte Menschen” verfehlte ihre Wirkung nicht. Einfach nur großes Kino – die Vorfreude stand den mitgereisten Grazern ins Gesicht geschrieben. Zahlreichen Touristen verfolgten dieses Schauspiel am Straßenrand, sogar ein TV-Team war anwesend. Die restlichen Kilometer wurden mit einer bereitgestellten U-Bahn zurückgelegt, in der die Klimaanlage leider ihren Geist aufgegeben hatte. Bei hochsommerlichen Temperaturen verwandelten sich die Abteile innerhalb weniger Augenblicke in dampfende Männersaunen, durchdrungen von einer Duftmischung aus Bier, Cannabis und Schweiß. Es war grenzwertig. Völlig gerädert kamen wir mit dem gesamten Tross über zwei Stunden vor dem Anpfiff und somit viel zu früh vor dem Stadion an, was die Euphorie ein wenig bremste.
Amsterdam Arena und die „Superjuden“
Die Amsterdam Arena fasst insgesamt 54.033 Zuschauer und wurde 1996 eröffnet. Mit ihrem verschließbaren Dach galt sie damals als erste moderne Fussballarena Europas. Separate Logen, ein Restaurant und Rolltreppen waren zu dieser Zeit eine absolute Premiere in einem Fussballstadion. Noch heute gilt die Amsterdam Arena als Vorreiter für intensive Vermarktung und Kommerzialisierung des Stadionbesuchs. Zur Saison 2018/19 wurde der Name in Johan-Cruyff-Arena geändert.
Amsterdam galt als „Jerusalem des Westens“.
Seit Jahrzehnten pflegen die Fans von Tottenham Hotspur und Ajax Amsterdam eine jüdische Identität, nennen sich „Yid Army“ und „Superjuden“, obwohl die Clubs keinen jüdischen Ursprung haben. Im Fall von Ajax hat das Image als jüdischer Club damit zu tun, dass Amsterdam vor dem Zweiten Weltkrieg als „Jerusalem des Westens“ galt. Rund 80.000 Juden sollen damals in der Stadt gelebt haben, viele tatsächlich Ajax-Fans. Das Stadion De Meer, in dem Ajax bis zum Bau der modernen Arena in den neunziger Jahren seine Heimspiele austrug, lag im Osten der Stadt, wo auch ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Amsterdams lebte. Allen voran waren und sind es jedoch die Fans des Klubs, die zur Pflege des Images beitragen. Auf den ihnen und dem Club mitunter entgegengebrachten Antisemitismus begannen sie ab den 1970er Jahren mit plakativem Philosemitismus zu antworten. Das Mitführen der Flagge Israels als Fan-Utensil und Tattoos in Form von Davidsternen wurden zu Markenzeichen von Teilen der Ajax-Fans, insbesondere der Hooligangruppierungen F-Side und VAK P410. Dies wiederum führte teilweise zu noch heftigeren judenfeindlichen Reaktionen. Von gegnerischen Zuschauern gestartete Sprechchöre wie „Hamas, Hamas, joden aan het gas! (Hamas, Hamas, Juden ins Gas!)“ oder „Wir gehen auf Judenjagd“ waren und sind traurigerweise keine Seltenheit in den Stadien, genauso wie Zischlaute, die ausströmendes Gas imitieren sollen.
Während heute verschiedene Fangruppen (Ultras Amsterdam, F-Side, South Crew und North Up Alliance) in der Amsterdam Arena für Stimmung sorgen, waren dafür lange Zeit nur die Hooligans der „F-Side“ verantwortlich. Die 1976 gegründete Gruppe machte vor allen Dingen durch Kämpfe gegen Hooligans von Feyernoord Rotterdam und ADO Den Haag in den 1980er und 1990er Jahren auf sich aufmerksam. Den Höhepunkt der Gewalt erreichten die niederländischen Hooligangruppen im März 1997, als bei einem Aufeinandertreffen von Ajax und Feyernoord-Fans ein Hooligan der „F-Side“ getötet wurde. Infolgedessen entschieden die beiden Bürgermeister der Städte Amsterdam und Rotterdam im Sommer 2009 in Zusammenarbeit mit dem niederländische Verband und der Polizei, dass bei Spielen zwischen Ajax und Feyernoord aus Sicherheitsgründen keine Gästefans mehr zugelassen werden sollten. Diese Abmachung gilt bis heute, ich selbst konnte mich bei einem Spielbesuch in Rotterdam vor einigen Jahren davon überzeugen. Dennoch verfügt Ajax über eine große, aktive Fanszene, in der sich sowohl Hooligans als auch Ultras organisieren. Trotz dieser Verhältnisse ist heutzutage das Publikum von Ajax ziemlich bunt gemischt. Das Stadion und das Umfeld sind auf eine moderne Vermarktung und einen kinder- und familienfreundlichen Stadionbesuch ausgelegt.
Das Spiel
Ich denke, zum Geschehen auf dem Rasen muss nicht viel gesagt werden. Für Interessierte war es ja sogar live und in Farbe im ORF zu sehen. Berauschender war da schon etwa die Musikauswahl des Stadion-DJs. Wie in Hollands Stadien üblich wurden wir mit feinstem Hardcore-Techno, Eurodance und Schlagern beschallt. In Fortsetzung des wilden Genre-Mixes durften wir uns zu Beginn der zweiten Halbzeit auch über Bob Marleys Klassiker „Three Little Birds“ erfreuen. Seit 2009 ist dieser Song die inoffizielle Hymne der der Ajax Anhänger. Die Mitreisenden importierten es gleich nach Graz, seit diesem Ausflug wird es bei jeder Partie intoniert.
Wir wurden mit feinstem Hardcore-Techno, Eurodance und Schlagern beschallt.
Am Beginn des Spiel gab es eine eindrucksvolle Schweigeminute für den verstorbenen Heinz Schilcher, der in seiner Zeit als Profi sowohl für Ajax als auch Sturm spielte und gerade mit den Niederländern alles gewann, was es zur damaligen Zeit zu gewinnen gab (Niederländischer Meister 1972 und 1973, Pokalsieger 1972, Europapokal der Landesmeister ebenfalls 1972 und 1973). Eine tolle Geste – die sprichwörtlich fallende Stecknadel hätte man hören können.
Im ausverkauften Haus gab es zum Einlaufen bei Sturm eine Fahnenchoreographie. Nicht sehr kreativ, aber effektvoll und bei internationalen Spielen eine organisatorische Meisterleistung. Dazu waren mehrere Trommeln und einige große Schwenker mit im Gepäck, im Vergleich zu vorangegangen Auslandsauftritten somit deutlich mehr Material. Die Stimmung war auf Grazer Seite zu Beginn prächtig, im Verlauf des Spieles gab es jedoch auch immer wieder mal ruhigere Minuten. Hier wurde meiner Meinung nach leider nicht das Optimum über volle neunzig Minuten herausgeholt.
Die Beurteilung der Heimstimmung ist aus dem Gästeblock immer schwierig und verständlicherweise kaum objektiv. Optisch überraschten mich die Gruppen um die zentral formierten Ultras Amsterdam aber doch, hat sich hier durch den Umzug und den nun gemeinsamen Standort im Unterrang hinter dem Tor doch einiges getan. Zu Beginn waren viele Fahnen, Doppelhalter und sogar etwas Pyro zu sehen, begleitet von weißen Fähnchen im restlichen Stadion, die zum Takt der Hymne geschwungen wurden: ein eindrucksvolles Bild.
Für solche Ausflüge übersteht man den trostlosen Ligaalltag.
In der Pause war ebenfalls für Unterhaltung gesorgt, als neben dem Gästeblock einige verwirrte Herrschaften mit GAK-Fahnen und provokanten Gesten auftauchten. Die Einladung zum lustigen Pausenspiel wurde dankend angenommen, Becherspenden und Gesänge Richtung Nachbarsektor war die Folge. Das Scharmützel wurde von Ordner aber recht rasch beendet. Nach dem Spiel kam es noch zur obligatorischen Blocksperre, die schlussendlich eine geschlagene Stunde dauern sollte. Erschöpft ergab man sich dem Schicksal und beobachte die Putzkolonnen bei ihrer Arbeit. Auch der Abmarsch zog sich ordentlich in die Länge, sodass man erst gegen Mitternacht und zwei Stunden nach Spielende wieder am Bahnhof ankam.
Oh, du geliebter Europapokal: Auch wenn man Strapazen auf sich nehmen muss, genau für solche Ausflüge übersteht man den teilweise trostlosen Ligaalltag.
Hinweis: SturmTifo.com hat uns für diesen Text einige Fotos zur Verfügung gestellt, vielen Dank dafür!